Mitternachtsweg (German Edition) by Benjamin Lebert

Mitternachtsweg (German Edition) by Benjamin Lebert

Autor:Benjamin Lebert [Lebert, Benjamin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455812442
Herausgeber: HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
veröffentlicht: 2015-01-21T05:00:00+00:00


Johannes Kiellands Manuskript (Fortsetzung)

Es liegt nun schon über ein Dreivierteljahr zurück, dass ich auf Sylt ankam, um die Schankwirtschaft Knudden zu besuchen. Es war im November 2005, ein nasser, stürmischer Tag. Dunkel, drohend. Ein Tag, der die Grenzen zwischen den Dingen aufzuheben schien und sie durcheinanderschleuderte. Man glaubte die Kräfte zu spüren, mit denen es die Insel Sylt von Anbeginn an aufnehmen musste. Regen prasselte herab auf den Bus der Linie 3, in dem ich von Westerland nach Keitum fuhr. Hinter den Fenstern des Busses, über die die Tropfen rannen, schien keine Welt zu existieren, nur Dunst, der wie die Erinnerung an etwas war. An etwas, das es nicht mehr gab. Ich musste mir den Ort vorstellen, was mir nicht schwerfiel. Ich mochte Keitum gern. Ein Ort, dessen uralte sanfte Melodie einem unter die Haut geht. Ein Ort, den man – hat man ihn einmal gesehen – mit sich trägt, wohin es einen auch verschlägt. Ungeachtet dessen, ob man Sylter ist oder nicht. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sich im achtzehnten Jahrhundert so viele Kapitäne dort angesiedelt haben. Vor allem in Keitum hat sich damals das gesellschaftliche Leben der Insel abgespielt. Hier wohnten die meisten Menschen, es gab Kaufläden und Gasthöfe, die erste Apotheke der Insel. Das Post- und Fährboot legte von diesem Ort ab. Die Frauen der Insel kamen mit Körben nach Keitum marschiert und tauschten ihre Handarbeiten gegen Lebensmittel ein. Ich mochte die alten Häuser und die schützenden Steinmauern, auch Friesenwälle genannt, von denen sie teilweise umgeben waren. Es ist selten, dass Steinmauern ein Gefühl der Behaglichkeit erzeugen können. Hier an diesem Ort war das so. Es gab viele Momente in meinem Leben, an denen ich mir einen Friesenwall für mich selbst wünschte.

An der Kirche stieg ich aus. Sie bestand aus mehreren aneinandergebauten Gebäuden, die ein Ganzes ergaben. Außer mir hielten sich gerade wenig Menschen dort auf. An diesem regnerischen Tag wirkte es so, als würden sich die einzelnen Gebäude, aus denen die Kirche bestand, vor einem Unheil aneinanderdrängen. Das Regenwasser rann an den spitz zulaufenden Dächern herab. Der Backsteinturm war dunstumhüllt. Das Weiß der Wände wirkte trotz des Regens sehr hell. Ich erinnerte mich daran, einmal gelesen zu haben, dass an der Stelle, wo die Kirche stand, in vorchristlicher Zeit Odin angebetet worden war, der Hauptgott der nordischen Mythologie. Ich bin kein religiöser Mensch. Als ich die Kirche hinter mir ließ, ging mir trotzdem durch den Sinn: Wer immer die Macht besitzt über diese Insel, der möge mir kein Feind sein. Auf einem Weg, der am Wattenmeer entlangführte, musste ich gegen den feuchten Wind ankämpfend noch einen halben Kilometer Richtung Munkmarsch zurücklegen. Die Flut war da, und wenn ich auf das Wattenmeer blickte, sah ich in das dunkle Grau, das Wasser und Regen und Himmel bildeten. Wenn ich auf den Boden sah, schienen mir die Farben intensiv. Ich trug eine Kapuze, deren Ränder die Ränder meines Blickfelds waren. Ich sah das Wasser an ihnen herabtropfen. Ich hörte das Rauschen des Regens, hörte, wie der Regen herabstürzte auf das Wattenmeer.



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