Miller, Andrew by Friedhof der Unschuldigen

Miller, Andrew by Friedhof der Unschuldigen

Autor:Friedhof der Unschuldigen
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Im oberen Stockwerk bleibt der Ingenieur, der seine Kerze vor dem Dutzend von Luftzügen abschirmt, die dort wie geheime, unsichtbare Strömungen herrschen, vor Ziguettes Zimmer stehen und schaut hinab auf den Lichtstreifen unten an der Tür. Es ist spät, aber er ist neugierig darauf, sie zu sehen, dieses sich auflösende Mädchen. Und er würde sie gern, wenn er denn kann, ein wenig beruhigen. Bestimmt schickt es sich für ihn, einen Gast, eine Art von Gast in diesem Hause, ihr sein Mitgefühl zu bekunden, und er will gerade leise an die Tür klopfen, als sie geöffnet wird und Marie vor ihm steht, im Gesicht die Andeutung eines Lächelns. Einige Sekunden lang stehen sie da und betrachten einander unverhohlen; dann tritt sie zurück, um ihn einzulassen.

Zwei Kerzen (zusätzlich zu seiner eigenen) beleuchten das Zimmer: eine auf der Kommode, die andere in einem Halter aus bemaltem Porzellan auf dem kleinen Schränkchen neben dem Bett. Das Zimmer ist geräumig, mindestens dreimal so groß wie seines, mit einem großen, mit Läden verschlossenen Fenster zur stillen Straße hin. In einen ordentlichen Zustand gebracht, wäre es ein angenehmes Zimmer, vielleicht das schönste im Haus, aber hier ist nichts in ordentlichem Zustand. Es scheint, als habe hier ein privater Sturm gewütet, der jedes Kleid und jeden Unterrock, jeden Leinenbeutel, jede bestickte Schürze und jedes Korsett, jede Morgenhaube und jeden Strohhut, jede Rüsche und Falbel, jeden Strumpf, alles, was die väterliche Liebe eines Messerschmieds einer einzigen Tochter schenken kann, durcheinandergewirbelt hat, in die Luft gewirbelt und dann, jäh erlahmt, in vollkommenem Durcheinander aus der Luft hat herabregnen lassen. Mittendrin und teilweise davon bedeckt, liegt Ziguette selbst; der Umriss ihres Körpers wird von einem Leinentuch nachgeformt, das Gesicht ist von einer Hitze gerötet, die sicherlich von innen kommt. (Im Zimmer brennt nur ein bescheidenes Feuer.) Sie starrt aus geschwollenen Augen zu dem Ingenieur auf, ihr Haar – unfrisiert, unbedeckt, ungekämmt – ist als dichtes, blondes Gewirr über das Kissen gebreitet. Ihr Mund sieht aus, als hätte sie einen Schlag darauf bekommen, und an ihrem gereckten weißen Hals kann er deutlich den Pulsschlag sehen.

»Es ist doch hoffentlich noch nicht zu spät für einen Besuch?«

Sie antwortet ihm nicht. Er blickt sich zu Marie um, die unmittelbar hinter ihm steht, die Hände vor dem Schoß verschränkt, das Gesicht inzwischen vollkommen ausdruckslos.

»Ihre Mutter«, sagt er, während er sich wieder Ziguette zuwendet, »meinte, Sie hätten wohl nichts dagegen. Ich komme gerade vom Abendessen mit ihr. Und natürlich auch mit Ihrem Vater.« Er vollführt eine schräg nach unten in Richtung Wohnzimmer weisende Geste. »Es tut mir leid, dass Sie unwohl sind. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich in irgendeiner Weise, unwissentlich …«

Sie macht eine hektische Bewegung. Marie zerrt einen großen Topf unter dem Bett hervor. Ziguette würgt. Sie erbricht nicht viel – vermutlich ist ihr Magen fast leer –, aber das von dem Topf verstärkte Geräusch ist eindrucksvoll. Marie hält dem Mädchen den Kopf, hat die roten Finger in dem blonden Haar vergraben und zupft daran.

Der Ingenieur tritt hinaus auf den Flur, zieht leise die Tür hinter sich zu und geht rasch in sein Zimmer.



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