Memoiren einer Idealistin by Meysenbug Malwida Freiin von
Autor:Meysenbug, Malwida Freiin von
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T05:00:00+00:00
Fünftes Kapitel
Die Familie der freien Wahl
Als ich mich wieder dem Dunstkreis näherte, der über der ungeheuren Weltstadt wie ein dunkler Raubvogel über der zu verschlingenden Beute lauert, fiel mir unwillkürlich der Chor aus Fidelio ein, als die Gefangenen zurück müssen in den Kerker und mit schmerzlicher Wehmut singen »Leb wohl, du schönes Sonnenlicht, nun schwindest du uns wieder.« Für den, der in diesem Weltstrom mitschwimmen will, um das goldne Eiland des Gewinns und des Genusses, nach dem die meisten streben, zu erreichen, oder für den, den die Gegensätze, die das Leben so großer Städte bietet, als Studium interessieren, oder endlich für den, der an einem der großen Zentren des politischen Lebens zu weilen vorzieht, für diese alle mag London ein Eldorado sein, zu dem Herz und Sinne mit Sehnsucht zurückeilen. Wem es aber in der Wiege mitgegeben war, lieber den Offenbarungen zu lauschen, die aus Luft und Wellen, aus Vogelsang und grünem Laubwald tönen, oder da zu weilen, wo im ernsten Kampf der Geister die großen Weltgedanken sich der Nacht des Chaos entringen, das sie unserem sterblichen Auge birgt, dem ist die Rückkehr nach London, wenn er, wie ich, in das Tret-Rad des Stundengebens hinein muß, eine Rückkehr aus der Freiheit ins Gefängnis.
Ich fand nur wenige meiner Schülerinnen vor, da es noch weit vom Anfang der Saison war und die meisten Familien noch auf dem Lande waren. Aber im Herzenschen Hause fing ich alsbald meine Stunden wieder an und freute mich der holden Kinder, die mir wahre Blumen in der Wüste waren. Eines Abends führte mich mein Weg am Hause vorbei, und da ich am Morgen nicht dagewesen war, so ging ich hinein, um zu sehen, wie es den Kindern gehe. Ich traf Herzen mit ihnen unten im Eßzimmer und sah, daß er verstört und traurig aussah. Als ich wegging, begleitete er mich hinaus und brach plötzlich in Tränen aus, indem er mir sagte, daß das häusliche Leben sich nicht organisieren wolle, daß er sich Sorgen mache um die Kinder, daß sein Haus eine Ruine sei, und wiederholte mehreremal: »Ich habe es nicht verdient, ich habe es nicht verdient!« – Es erschütterte mich tief, ihn so zu sehen. Es hat immer etwas Ergreifendes, einen Mann weinen zu sehen, um wieviel mehr einen, der äußerst sparsam ist mit Gefühlsäußerungen und im Weltgetriebe so absorbiert scheint, daß man ihn der Empfindlichkeit engeren Verhältnissen des Lebens gegenüber kaum für fähig hält. Zugleich rührte mich aber auch sein Zutrauen zu mir, und als er sagte: »Geben Sie mir Rat!« versprach ich ihm, darüber nachzudenken, was zu tun sei. Zu Hause überlegte ich lange, was ich raten solle. Schon oft hatten die Kinder und die Bonne gesagt, ich solle doch ganz zu ihnen kommen, und hatten Pläne gemacht, wie schön wir dann leben wollten. Von einer Seite war mir der Gedanke lockend gewesen, wenn ich an ein Zusammenleben mit den Kindern in so freien Verhältnissen und an ein Werk der Erziehung, das edle Früchte bringen konnte, statt des traurigen Stundengebens dachte. Dennoch war ich immer
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