Marie Marne und das Tor zur Nacht by Christoph Werner

Marie Marne und das Tor zur Nacht by Christoph Werner

Autor:Christoph Werner [Werner, Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2015-06-18T00:00:00+00:00


21. Kapitel

* * *

Die Bilder kamen mit dem Schlaf: Hannes, hingestreckt auf einer Straße, sein Körper von unzähligen Bisswunden übersät. Auf ihm hockend eine kleine, schwarze, affenähnliche Gestalt mit weißen Zähnen, die seinen Hals umklammert hielt. Marie fuhr in ihrem Bett hoch, kaum dass sie eingeschlafen war. Sie starrte in die Dunkelheit. Als sie sich wieder hinlegte, sah sie, während sie einnickte, wie Regine schreiend in einem Auto saß und gegen die Scheiben klopfte. Es dauerte einen Moment, bis Marie begriff, dass das Auto im Wasser versank und Marie ihm dabei vom Ufer aus zusehen musste. Oh Gott! Sie schaltete das Nachtlicht an und stieg aus dem Bett.

Eine Weile stand sie am Fenster und schaute auf die Straße. Sie versuchte zu lesen, aber sie war müde und die Bilder gingen ihr nicht aus dem Kopf. Als sie sich wieder hingelegt hatte und gerade eingeschlafen war, sah sie einen Gang, einen engen, endlosen Gang, durch den sie rannte, so schnell sie konnte, auf der Flucht vor irgendeinem furchtbaren Wesen. Sie hörte es hinter sich keuchen und grunzen und dann packte es Marie und Marie sprang aus dem Bett und schrie. Was war los? Woher kamen diese Bilder? Es war doch alles gut. Ihr Vater war wieder zu Hause, er lag oben in seinem Bett und schlief. War das die Strafe, weil sie die Träume anderer Leute geträumt hatte? War das der Preis, den sie dafür zahlen musste, dass ihr Vater aufgewacht war? Sie war bereit, diesen Preis zu zahlen, aber wie lange würde dieser Zustand anhalten?

Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend, lauschte sie in die Nacht. Ein paar Katzen jaulten den Mond an, der Himmel war sternenklar, eine Grille zirpte. Den Fernseher anzuschalten, wagte sie nicht, sie fürchtete, ihre Eltern zu wecken. Zurück in ihrem Zimmer, versuchte sie wieder einzuschlafen, aber mit dem Schlaf kamen die Bilder und die schreckten Marie auf. Sie nahm noch einmal ein Buch zur Hand, aber dabei fielen ihr wieder die Augen zu und schon im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen und war hellwach. Was war das?! Was sollte das?! Wieso durfte sie nicht schlafen?

Mr. Phisto, er hatte ihr doch gesagt, dass alles vorbei sein würde, wenn Hannes wieder aufgewacht war. Das Tor, das schwarze Tor, kamen die Bilder daher? Aber wie denn, wie sollte das möglich sein? Marie richtete sich auf. Unschlüssig blieb sie auf dem Bettrand sitzen. Vielleicht waren die Bilder nur ein Ausdruck all dessen, was sie in den letzten Wochen empfunden hatte, sich aber nicht hatte eingestehen wollen? Die Angst um ihren Vater, die Sorgen um ihn, die Traurigkeit darüber, dass er sie nicht mehr erkannt hatte. Die Tränen ihrer Mutter, ihre Hilflosigkeit. Jetzt, wo alles überstanden war, wo Marie ihren Vater jederzeit wieder anrufen, in den Arm nehmen, Klavier spielen hören konnte, jetzt kamen diese Bilder. Das war vielleicht normal? Das gehörte vielleicht dazu?

Sie schlich sich in Hannes‘ Tonstudio, setzte sich an den Flügel und klimperte ein bisschen darauf herum. Hannes war wieder da, er war wieder da, was immer jetzt passierte, Marie würde es überstehen.



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