Londoner Triptychon by Jonathan Kemp
Autor:Jonathan Kemp [Kemp, Jonathan]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863001841
Herausgeber: Männerschwarm Verlag
veröffentlicht: 2015-05-03T16:00:00+00:00
1954
Ich wurde bereits mit so absurd jungen Jahren ins Internat abgeschoben, dass ich mich an mein Leben davor nicht mehr erinnern kann, sosehr ich mich auch bemühe. Das verlorene Paradies, ein flüchtiger Hauch von Ambrosia, der Garten Eden vor dem Sündenfall – nichts dergleichen, auch nicht die strahlende Unschuld vor dem Abstieg in die Dunkelheit, wie der letzte Strahl der Sonne, bevor sie hinter einer Wolke verschwindet. Internate sind keine Orte für Kinder. Vom Augenblick des Eintreffens an wird man entmutigt, ein Kind zu sein. Fröhlichkeit wird ersetzt durch Disziplin, Freiheit durch Unterordnung und Neugier durch unzählige stumpfsinnige Regeln und Vorschriften, Zahlen und Fakten. Es ist schmerzhaft, unter Zwang aufzuwachsen, schon im Alter von sechs erwachsen sein zu müssen, ein «kleiner Mann» zu sein, wie sie uns nannten. Die Methode, mit der sie uns zu kleinen Männern machten, war von unvorstellbarer Brutalität. Wer nicht bereit und in der Lage war, andere zu unterwerfen, wurde selbst zur Unterwerfung gezwungen. Ich war von Natur aus schwächlich und klein für mein Alter, deshalb war ich dazu verurteilt, die Willkür der anderen zu ertragen, die Barbarei des Lehrpersonals auf der einen und die Dekadenz der älteren Jungen auf der anderen Seite. Heute glaube ich, dass wir schwachen Jungen bestraft wurden, weil wir nicht der Norm entsprechen konnten oder wollten. Meinen Eltern gegenüber sagte ich nie ein Sterbenswörtchen darüber, und natürlich wünschte ich mir nach diesen Erfahrungen nur umso mehr, endlich den Anforderungen der Konformität zu genügen, und nicht etwa, mich ihnen zu widersetzen. Ich betete jeden Abend zu Gott, er solle mich töten oder mich retten. Er tat keins von beidem, und so wurde ich Atheist. Ich habe seitdem nicht ein einziges Mal an der Nichtexistenz Gottes gezweifelt.
Die sexuellen Demütigungen, die ich durch die älteren Jungen erdulden musste, wurden noch unerträglicher dadurch, dass ich in den meisten Fällen ein schamhaft unterdrücktes Vergnügen daran fand. Auf manche dieser Begegnungen freute ich mich sogar und schwärmte heimlich für einige der älteren Jungs, von denen jedoch keiner jemals das geringste Gefühl zeigte.
Der einzige Aspekt des Erwachsenwerdens, dem ich ungeduldig entgegenfieberte, war das Ende der Schulzeit. Ich müsste diese Demütigungen dann nicht länger erdulden und könnte die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis löschen, ebenso wie die Lust, die ich dabei empfunden hatte. Das Leben der Erwachsenen erschien mir so viel einfacher zu sein. Den Erwachsenennormen der Mittelschicht konnte ich in vielerlei Hinsicht ohne Weiteres entsprechen, allerdings bin ich ganz gewiss nicht stolz darauf. Ich war viel zu ängstlich, um ein anderes Leben zu führen. Für diese Furchtsamkeit schäme ich mich besonders, seitdem ich Gore kenne.
Sis ut videris lautete der Wahlspruch unserer Schule, «Sei, was du scheinst». Kein Vortäuschen, keine Allüren, keine Heuchelei. Wir sollten gute, bodenständige, bürgerliche Menschen werden, verlässlich, kompetent, ehrlich und treu. Männlich. Ohne Falsch. Sei, was du scheinst. Ja, aber wir erschienen, und erscheinen noch immer, als so viel weniger als das, was wir sind oder sein könnten. Bis hin zur Hochzeit mit Joan tat ich genau das, was von mir erwartet wurde. Ich bewegte mich friedlich innerhalb der engen Parameter, die in meiner Kindheit festgelegt wurden.
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