Logbuch eines unbarmherzigen Jahres by Palmen Connie

Logbuch eines unbarmherzigen Jahres by Palmen Connie

Autor:Palmen, Connie [Palmen, Connie]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257602883
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00


[139] Von dem Zeitungsausschnitt fixiert mich eine ungewöhnlich fragile ältere Frau. Auf dem Foto trägt sie das dünne, glatte Haar in einer fast kindlichen Frisur und hält sich die schönen, manikürten Hände vor den Mund. Sie trägt keine Ringe. Der rechte Ringfinger, an dem ein Ehering sein könnte, weist die Verdickung eines rheumatischen Leidens auf. Ihr hohläugiger Blick geht knapp an dem des Fotografen vorbei; man muss schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass sie seinem Blick ausweicht. Als wolle sie sich zeigen und zugleich verbergen, als entschuldige sie sich für das, was andere sehen, wenn sie in deren Blickfeld kommt. Später werde ich in ihrem Buch lesen, dass sie nicht wusste, wie sie jemandes Frau zu sein hatte, und deshalb auch nicht, wie sie seinen Ring tragen sollte. Sie trägt ihn an einer Kette um den Hals.

Im Laufe dieses Nachmittags im Oktober drehe ich den Zeitungsausschnitt um, weil der Anblick ihres Gesichts so unerträglich ist. Und dennoch ist es eher das Foto von Joan Didion, das mich im Laufe der Woche dazu veranlasst, den Artikel zu lesen, als das Thema des Buches, um das es in dem abgedruckten Interview geht, The Year of Magical Thinking. Der Bericht über das Jahr nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne. Ich habe diese Geschichte schon gelesen, ich habe dieses Buch schon durch.

Jedes Mal wieder muss ich mich dazu überwinden, Neugier und Leselust für Bücher über den Tod geliebter Menschen, seien es Ehepartner oder Kinder, aufzubringen. Was Väter und Mütter betrifft, mache ich eine Ausnahme. Väter und Mütter beschwören Vergangenheiten herauf, [140] und Vergangenheiten unterscheiden sich. Aber wenn um einen Geliebten getrauert wird, wird die Zukunft betrauert, beziehungsweise die Unfähigkeit, diese Zukunft noch zu ertragen und ihr einen Sinn zu verleihen. Und das geschieht immer auf die gleiche Weise. Eine tröstliche und scheußliche Feststellung. Tröstlich, weil man seinen Schmerz mit so vielen teilt, scheußlich, weil es den Schmerz millionenfach vermehrt. Man kann unmöglich achtlos auf die verstreuten Leichen in den Nachrichten blicken, ohne an das Leid der Hinterbliebenen zu denken. Man kann unmöglich eine Todesanzeige lesen, ohne sich die unendliche Leere vorzustellen, welche die, deren Name eng mit dem Toten verbunden ist, in der kommenden Zeit empfinden werden. Gleichzeitig hat die mangelnde Originalität der Trauer etwas Ärgerliches, zumindest für einen Schriftsteller. Es lassen sich nicht so viele literarische Varianten für den Zustand finden, in den der Trauernde geworfen wird. Du bist nackt, du bist irre. Bei dem, was sich in deinem Kopf abspielt, kann beim besten Willen nicht von Denken die Rede sein. Es ist die hartnäckige Wiederholung immer wieder desselben in der Hoffnung, dass die repetierte Gleichung irgendwann zu einem anderen Ergebnis führt als null, nichts. Und das tut sie nicht. Es fällt mir schwer, immer wieder die gleiche Geschichte zu lesen, auch wenn Ansatz, Stil, Struktur der Geschichte vom Tod noch so sehr von den meinen abweichen. Es bleibt die gleiche Geschichte.

Magisches Denken ist das Denken, mit dem man eine unerträglich gewordene Wirklichkeit zu beeinflussen und [141] zu verändern können glaubt.



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