Lexikon Pädagogik: Hundert Grundbegriffe (Reclams Universal-Bibliothek) by Stefan Jordan und Marnie Schlüter

Lexikon Pädagogik: Hundert Grundbegriffe (Reclams Universal-Bibliothek) by Stefan Jordan und Marnie Schlüter

Autor:Stefan Jordan und Marnie Schlüter [Schlüter, Stefan Jordan und Marnie]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783159607528
Herausgeber: Reclam Verlag
veröffentlicht: 2016-04-27T22:00:00+00:00


Kritische Erziehungswissenschaft

Der Begriff ›K. E.‹ entstand in den 1960er Jahren als Bezeichnung für eine bestimmte theoretische und politische Neuorientierung der dt. →Pädagogik. Prominenteste Vertreter der K. E. sind Klaus Mollenhauer, Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki, Heinz-Joachim Heydorn, Hans-Jochen Gamm und Klaus Schaller. Gemeinsame wissenschaftstheoretische Grundlage bzw. Ausgangspunkt dieser heterogenen Gruppe von Erziehungswissenschaftlern ist eine doppelte Frontstellung einerseits gegen die bis dahin dominierende →Geisteswissenschaftliche Pädagogik als hermeneutische, sinnverstehende Auslegung der Erziehungsgeschichte und -wirklichkeit und andererseits gegen das Konzept einer angeblich wertfreien, empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft, wie es v. a. von Wolfgang Brezinka (Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft, 1971) vertreten wurde.

Beide Positionen sind aus der Sicht der K. E. Fehlformen einer ›halbierten Rationalität‹, die die herrschaftssichernde Funktion der Erziehung ideologisch verschleiert (Klaus Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, 1968). Im Selbstverständnis der K. E. ist dagegen Wissenschaft als ›unverkürzte Aufklärung‹ von einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse geleitet. Individuelle →Mündigkeit als Ziel der →Erziehung und die Beseitigung ungerechtfertigter gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse sind die sich wechselseitig bedingenden normativen Voraussetzungen dieses Programms. Unter dieser Perspektive ist eine umfassende Analyse und Kritik der Erziehung als Teil des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses und der daraus resultierenden Herrschaftsverhältnisse erforderlich. Dazu bedienen sich die Repräsentanten der K. E. in unterschiedlichem Maße der gesellschaftskritischen Theorieangebote von Vertretern der ›Frankfurter Schule‹ wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und v. a. Jürgen Habermas (Helmut Peukert, »Kritische Theorie und Pädagogik«, in: Zeitschrift für Pädagogik 30, 1983).

Im historischen Rückblick lässt sich die K. E. als Teil der kulturellen Modernisierung der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren und der damit einhergehenden Liberalisierung und Demokratisierung des Bildungssystems interpretieren. Mit dem Ende der bildungspolitischen Reformphase, dem Vordringen neoliberaler Interpretationen von Erziehung und Gesellschaft sowie der Ausbreitung einer empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft verlor die K. E. in den nachfolgenden Jahrzehnten im wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs rasch an Einfluss. Ihre zentralen Fragen zum Zusammenhang von Herrschaft, sozialer Ungleichheit und Erziehung stellen sich allerdings angesichts zunehmender gesellschaftlicher Disparitäten und deren Auswirkungen auf Erziehungsinstitutionen und -prozesse heute dringender als je zuvor (→Chancengleichheit). Innerhalb der Erziehungswissenschaft lassen sich deshalb in jüngster Zeit vereinzelt Versuche beobachten, das Theorieprogramm der K. E. zu reformulieren und für die Analyse und Kritik gegenwärtiger Erziehungsverhältnisse zu nutzen (Kritische Erziehungswissenschaft und Bildungsreform. Programmatik – Brüche – Neuansätze, hrsg. von Armin Bernhard [u. a.], 2003). Die Wirkungen dieser theoretischen Anstrengungen auf den inner- und außerwissenschaftlichen pädagogischen Diskurs sind vorerst allerdings gering.

Franzjörg Baumgart

Wolfgang Keckeisen: Pädagogik zwischen Kritik und Praxis. Studien zur Entwicklung und Aufgabe kritischer Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 1984.

Heinz Sünker / Hans-Herrmann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt a. M. 1999.



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