Letzter Sommertag (German Edition) by McEwan Ian

Letzter Sommertag (German Edition) by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603286
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2015-01-21T05:00:00+00:00


Der kleine Tod

Ich mache mir nichts aus posierenden Frauen. Aber sie stach mir ins Auge. Ich mußte stehenbleiben und sie anschauen. Die Beine waren weit gespreizt, der rechte Fuß keß vorgestellt, den linken zog sie mit einstudierter Lässigkeit nach. Die rechte Hand, die sie vorgestreckt hielt, berührte beinahe das Fenster, die Finger schossen empor wie schöne Blumen. Die linke Hand hatte sie ein wenig hinter sich gestreckt und schien damit übermütige Schoßhündchen niederzuhalten. Den Kopf in den Nacken geworfen, ein dünnes Lächeln, vor Langeweile oder Vergnügen halbgeschlossene Augen. Ich vermochte es nicht zu sagen. Sehr künstlich das Ganze, doch andererseits bin ich auch kein einfacher Mann. Sie war eine schöne Frau. Ich sah sie fast jeden Tag, bisweilen zwei- oder dreimal. Und je nachdem nahm sie andere Posen ein, ganz nach Lust und Laune. Manchmal gestattete ich mir im Vorübereilen (ich bin ein Mann in Eile) einen flüchtigen Blick, und sie schien mich zu sich zu winken, mich aus der Kälte willkommen zu heißen. Ich entsinne mich anderer Tage, wo ich sie in jener müden, niedergeschlagenen Passivität antraf, die Dummköpfe mit Weiblichkeit verwechseln.

Ich begann, auf ihre Kleider zu achten. Sie war eine modische Frau, natürlich. Das war gewissermaßen ihr Job. Doch sie besaß nichts von der geschlechtslosen, zimtzickigen Steifheit dieser leblosen Kleiderbügel, die in muffigen Salons bei scheußlicher Muzakberieselung haute couture vorführen. Nein, sie hatte wirklich Klasse. Sie existierte nicht bloß, um einen Stil, eine Tagesmode zu präsentieren. Darüber war sie erhaben, darüber war sie hinaus. Ihre Kleider waren für ihre Schönheit peripher. Sie hätte in alten Papiertüten gutangezogen gewirkt. Sie gab nichts auf ihre Kleider, sie tauschte sie täglich gegen andere. Ihre Schönheit leuchtete durch diese Kleider hindurch… und doch waren es schöne Kleider. Es war Herbst. Sie trug Capes in dunklem Rostbraun oder wirbelnde Bauernröcke in Orange und Grün oder rauhe Hosenanzüge in gebranntem Ocker. Es war Frühling. Sie trug Baumwollröcke in der Farbe der Passionsblume, weiße Kalikohemden oder verschwenderische Kleider in Hellgrün und Blau. Ja, ich achtete auf ihre Kleider, denn sie verstand sich, wie sonst nur die großen Porträtmaler des achtzehnten Jahrhunderts, auf die üppigen Möglichkeiten des Stoffs, die Subtilitäten der Falten, die Nuance von Knitter und Saum. Ihr Körper paßte sich mit seinen fließenden Posenwechseln den einmaligen Forderungen jeder Kreation an; mit atemberaubender Grazie setzten die Linien ihres vollkommenen Körpers einen zarten Kontrapunkt zu den wechselvollen Arabesken der Schneiderkunst.

Doch ich verplaudere mich. Ich langweile Sie mit Lyrismen. Die Tage kamen und gingen. Ich sah sie diesen Tag und jenen nicht und anderentags vielleicht zweimal. Unmerklich wurde das Sie-Sehen und Nicht-Sehen ein Faktor in meinem Leben, und ehe ich mich versah, gab dieser Faktor meinen Tagen ihre Struktur. Würde ich sie heute sehen? Würden sich all die Stunden und Minuten auszahlen? Würde sie mich ansehen? Erinnerte sie sich vom einen zum anderen Mal an mich? Gab es eine gemeinsame Zukunft für uns… würde ich je den Mut aufbringen, mich ihr zu nähern? Mut! Was bedeuteten jetzt meine ganzen Millionen, was jetzt meine in den Verheerungen dreier Ehen gewonnene Weisheit? Ich liebte sie… ich wollte sie besitzen.



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