Lebenskünstler by Rolando Villazón

Lebenskünstler by Rolando Villazón

Autor:Rolando Villazón [Villazón, Rolando]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644000636
Herausgeber: Rowohlt E-Book


Das Verfolgte kommt manchmal – entgegen jeder Voraussage – direkt zum Verfolger. Doch damit dieser das erkennen kann, muss er ständig aufmerksam sein, ständig alle Sinne wach und sämtliche Antennen aufgerichtet halten. Der Mann in Grau schritt mit nervösen, hastigen Bewegungen auf das Ende des fahrenden U-Bahn-Waggons zu. Nachdem er diesen Palindromus aussteigen gesehen hatte, war er mit der nächsten Bahn gefahren. Er wusste, dass er zum Paketdienst fuhr, der sich in der Nähe der Endstation dieser Linie befand. Das hatte ihm die freundliche, aber hässliche Concierge von Nummer achtundsiebzig gesagt, die ihm auch den Namen oder Spitznamen dieses Palindromus verraten hatte sowie das Gebäude, das er allmorgendlich verließ. Daher könnte er ihn am Paketdienst abpassen, wenn er wollte, oder ihn an seiner Haustür erwarten; aber vielleicht beschloss dieser Palindromus ja aus irgendeinem Grund, aus seiner Bahn auszusteigen, und wäre dann gezwungen, mit der nächsten U-Bahn weiterzufahren, derselben, in die der Mann in Grau eingestiegen war. Sehr wahrscheinlich war das nicht, aber immerhin eine Möglichkeit. In jeder Station war der graue Mann ausgestiegen und auf eine der Wartebänke gesprungen, um von erhöhter Position aus diesen Palindromus zu entdecken. Und so kam es, dass er ihn in der letzten Station ganz am Ende des Bahnsteigs entdeckt hatte, wo er mit einer blassen jungen Frau sprach. Die Frau war auf dem Bahnsteig zurückgeblieben und dieser Palindromus wieder eingestiegen, in dieselbe U-Bahn, in der der graue Mann sich jetzt entschlossenen Schritts einen Weg durch die Fahrgäste zu ihm bahnte. Er umging Hindernisse und murmelte Entschuldigungen für Püffe und Schubse. Die Leute schauten ihn misstrauisch an, wenn er mit starr voraus gerichtetem Blick wie ein Schatten vorüberhuschte, vergewisserten sich, ob Taschen, Schmuck, Uhren und Geldbörsen noch an ihrem Platz waren, dann vergaßen sie ihn. Der Mann in Grau strebte klopfenden Herzens vorwärts, verlor manchmal das Gleichgewicht, wenn der Zug in eine Kurve fuhr, und hielt sich an einer Stange fest, dann hastete er weiter. Er musste sein Ziel erreichen, bevor die automatischen Türen wieder aufgingen.

Die Lautsprecheransage kündigte die Einfahrt in die nächste Station an. Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt. Der graue Mann durcheilte die Gänge der Waggons, dann wurde sein Lauf langsamer. Er hatte den letzten Wagen noch rechtzeitig erreicht. Er befand sich jetzt im selben Abteil, in dem Palindromus saß und mit leerem Blick auf das Fischlein starrte, das er in einem halbvollen Aquarium mit sich führte. Der Mann in Grau blieb auf der anderen Seite des Gangs stehen. Er versuchte, wieder ruhig zu atmen, und kalkulierte die Entfernung, die sie voneinander trennte. Dieser Palindromus hatte ihn noch nicht bemerkt. Er saß wie in Trance und beobachtete den Fisch, der im Aquarium langsam seine Runden drehte.

Als die U-Bahn in die Station einfuhr, standen einige Fahrgäste auf. Der Mann in Grau musste nicht mehr fieberhaft in Gesichter jenseits der Fenster starren, nicht mehr auf eine der Bahnsteigbänke klettern und in alle Richtungen spähen und auch nicht mehr auf eine Gunst des Schicksals warten, denn der Mann, den er suchte, saß nur wenige Schritte von ihm entfernt.



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