Lady Orakel by Atwood Margaret

Lady Orakel by Atwood Margaret

Autor:Atwood, Margaret [Atwood, Margaret]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492311182
Herausgeber: PIPER
veröffentlicht: 2017-03-09T23:00:00+00:00


17

Wie hatte sie mich gefunden?

Sie stand da, sehr gerade, auf dem lehmfarbenen Teppich, in ihrem marineblauen Kostüm mit dem weißen Kragen; ihre weißen Handschuhe, Hut und Schuhe waren makellos, die Handtasche hielt sie unter dem Arm. Ihr Gesicht war geschminkt, um den Mund herum hatte sie sich mit Lippenstift einen größeren Mund gemalt, aber die Form ihres eigenen Mundes schimmerte hindurch. Dann erst sah ich, dass sie weinte, lautlos, grässlich; Wimperntusche tropfte in schwarzen Tränen von ihren Augen.

Hinter ihr konnte ich das schäbige Sofa sehen; es sah aus, als käme die Füllung daraus hervorgequollen. Meine Nackenhaare sträubten sich, und mit einem Satz war ich wieder aus der Tür, knallte sie hinter mir zu und lehnte mich dagegen. Das war ihr Astralleib, dachte ich in Erinnerung an das, was Leda Sprott mir erzählt hatte. Warum konnte sie das verdammte Ding nicht zu Hause behalten, wo es hingehörte? Ich stellte mir vor, wie meine Mutter über den Atlantik schwebte, ihr Gummiband wurde dünner und dünner, je länger es sich dehnen musste; etwas mehr Vorsicht würde ihr guttun, sonst würde das Ding reißen und sie bliebe für immer bei mir, würde im Wohnzimmer lauern wie eine durchsichtige Staubflocke oder ein transparentes Dia ihrer selbst, aufgenommen im Jahr 1949. Was wollte sie von mir? Warum konnte sie mich nicht in Ruhe lassen?

Ich machte die Tür wieder auf, um ihr entgegenzutreten und es endlich hinter mich zu bringen, aber sie war verschwunden.

Ich stellte sofort sämtliche Möbelstücke um; sie waren alt und schwer, und es kostete mich einige Anstrengung. Dann ging ich in der Wohnung herum und suchte nach offenen Fenstern, aber alle waren geschlossen. Wie war sie hereingekommen?

Den anderen erzählte ich nichts von diesem Besuch. Sie regten sich ein bisschen wegen der Möbel auf; nicht, dass es sie gestört hätte, sie meinten nur, ich hätte sie vorher fragen sollen. »Ich wollte euch die Mühe ersparen«, sagte ich. »Ich finde eben, es sieht so einfach besser aus.« Sie ordneten es unter Hausfraueninstinkt ein und vergaßen den Vorfall. Ich aber nicht: Wenn meine Mutter es einmal geschafft hatte, ihren Astralleib über den Atlantik zu schicken, konnte sie es wieder tun, und der nächste Besuch war mir nicht willkommen. Ich war nicht sicher, ob das Umstellen der Möbel sie fernhalten würde. Leda Sprott hatte es gegen böse Geister angewandt, aber meine Mutter war kein Geist.

Fünf Tage später bekam ich das Telegramm. Es hatte vier Tage im Canada House gelegen; ich hatte meine Post weiter dort hinschicken lassen und es auch als Absender auf meine seltenen Postkarten geschrieben, die ich meinem Vater geschickt hatte, für den Fall, dass meine Mutter es sich in den Kopf setzen sollte, mich aufzuspüren und heimzusuchen. Ich holte meine Post nicht oft ab, weil ich keine bekam, außer der gelegentlichen Postkarte von meinem Vater, eine Karte mit der nächtlichen Skyline von Toronto, von Centre Island aus gesehen – er musste Dutzende auf einmal davon gekauft haben –, immer mit der gleichen Nachricht: »Alles in Ordnung hier«, als müsste er mir Bericht erstatten.

Das Telegramm lautete: DEINE MUTTER GESTERN GESTORBEN.



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