Kopf unter Wasser by André Kubiczek

Kopf unter Wasser by André Kubiczek

Autor:André Kubiczek
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2012-06-26T22:00:00+00:00


16.

Schwer zu sagen, woher ihr plötzlicher Sinneswandel kam, in einer Situation, die ungünstiger nicht sein konnte, und nach fast dreißig Jahren, in denen es mit Sicherheit bessere Zeitpunkte gegeben hatte, ausgerechnet das zu verkünden. Birtes Verhalten war in hohem Maße irrational, ein rebellischer Akt, der in die Pubertät gehört hätte.

Im März, einen Monat nach dem ersten gemeinsamen Besuch bei ihren Eltern, erklärte Birte mit großer Pose, sie wolle die Geburt ihrer Tochter nutzen, um sich endlich auf die eigenen Beine zu stellen, sich frei zu machen von den Abhängigkeiten, in denen sie gefangen sei.

»Schön«, sagte Henry, »und was heißt das konkret?«

»Also«, sagte Birte, holte tief Luft, lehnte sich in den cremefarbenen Ledersessel zurück und begann, mit der flachen Hand über ihren Bauch zu streichen, »das bedeutet zuallererst einmal, dass wir eine neue Wohnung brauchen.«

Henry wollte etwas entgegnen, aber Birte schob schnell nach: »Für den Fall, dass du nicht mit mir zusammenziehen willst: Ich hab es schon mal gesagt, ich bekomme meine Tochter auch alleine groß.«

»Unsere Tochter«, sagte Henry und dann: »Auch wenn ich es nicht zehnmal am Tag wiederhole, dass ich mit dir und dem Baby zusammenleben will, es ist trotzdem so. – Hast du gehört: Ich will. Punkt.«

»Dann zeig es mir doch auch mal«, sagte Birte und zog die Nase hoch, »langsam wird mir das alles ein bisschen zu viel. Ich muss zu den Voruntersuchungen, ich muss zum Geburtsvorbereitungskurs, und ich bin wirklich die Einzige, die dort ohne Mann hinkommt. Und dann noch diese Scheißarbeit. – Und wofür das alles?« Sie schniefte, Henry reichte ihr ein Papiertaschentuch.

Statt inhaltlich zu arbeiten, wie sie gehofft hatte, verrichtete Birte Handlangerdienste in der Stiftung. Sie kochte Kaffee, baute Veranstaltungstechnik auf und wieder ab, sie dekorierte kalte Platten mit frischen Kräutern, wenn ihre Chefin fand, dass das nötig sei. Birte schenkte Getränke aus und entkorkte Weinflaschen, sie lief mit Tabletts durch die Gegend und musste, wenn es eng wurde, der afrikanischen Spülkraft in der Teeküche zur Hand gehen. Sie machte Mikrofonproben und riss Eintrittskarten ab, genau wie im Goethe-Institut.

Glaubte Henry Birtes Klagen, so bestand die Arbeit der Stiftung hauptsächlich darin, am kalten Büfett Propaganda zu betreiben: Vorträge und Konferenzen, Rechenschaftsberichte und Selbstdarstellungen, die Herausgabe von Broschüren und Faltblättern, Fundraising-Veranstaltungen mit Bundestagsabgeordneten sich fortschrittlich gebender Parteien. Allerdings brachte Birte so oft übrig gebliebenes Edelessen mit nach Hause, dass ihre Beschreibungen zu stimmen schienen. (Später, als ihr Frust noch größer wurde – die Arbeit konnte sie wegen des wachsenden Babybauches nur noch unter großer körperlicher Anstrengung erledigen –, begann sie, Teile des stiftungseigenen WMF-Küchenzubehörs zu klauen, unter anderem Suppenkellen, Schüsseln, einen Eisportionierer, zwei Pfeffermühlen. Manchmal brachte sie eine volle Weinkiste mit oder eine Flasche Olivenöl, und als Henry fragte, was das solle, behauptete Birte, das würden alle so machen. Noch bevor sie auffliegen konnte, war der Juni angebrochen, Monat der Niederkunft, und die Kündigung, die Birte im Winter eingereicht hatte, wurde wirksam.)

»Wir brauchen keine neue Wohnung«, sagte Henry und strich jetzt ebenfalls über Birtes Bauch. »Meine Wohnung ist doch in Ordnung. Drei Zimmer, Gasetagenheizung. Und die Miete ist auch akzeptabel für diese Yuppie-Gegend.



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