Karneval der Alligatoren by James G. Ballard
Autor:James G. Ballard
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2010-10-02T04:20:19.875000+00:00
Das Schiff war offenbar einmal eine schwimmende Spiel- oder Lasterhölle gewesen, außerhalb der 5-Meilen-Zone vor Messina oder Beirut verankert oder im Schutz eines Delta-Arms unter den gnädigeren Himmeln südlich des Äquators. Als sie hinuntergingen, ließen ein paar Leute von der Mannschaft gerade das reichverzierte Fallreep zum Ufer. Die ehemals goldgestrichenen Geländer, von denen sich die Farbe löste, waren mit einer weißen Holzmarkise überdacht, die man mit goldenen Quasten und Draperie-Imitation bemalt hatte; das Ding quietschte und knarrte wie eine alte Zahnradbahn. Im Inneren war das Schiff ebenso barockähnlich verziert. Die dunkle, geschlossene Bar sah aus wie der Heckaufbau eines Galaschiffs, nackte vergoldete Karyatiden trugen ihre Überdachung. Halbsäulen aus Marmorimitationen bildeten kleine Loggias, die zu separierten Alkoven und Speisezimmern führten, die doppelte Mitteltreppe war wie eine schlechte Filmkulisse von Versailles; staubige Putti schwirrten rund um schimmlig-schmierige Messingkandelaber.
Die Roulettetische waren verschwunden, der verkratzte Parkettfußboden mit Unmengen Kisten und Ballen bedeckt bis hoch gegen die drahtvergitterten Fenster, so daß nur schwaches Licht von draußen hereindrang. Alles war wohlverpackt und versiegelt, nur auf einem alten Mahagonitisch aus dem ehemaligen Kartenraum sah Kerans eine Sammlung von verstümmelten Bronze- und Marmorfiguren und Torsos, Fragmente alter Statuen.
Strangman blieb am Fuße der Treppe stehen und zog ein Stück Farbe von der Wandmalerei. »Zerfällt alles. Kommt dem Ritz natürlich nicht nahe. Ich beneide Sie sehr, Herr Doktor, Sie haben das Richtige gewählt.«
Kerans zuckte mit den Schultern. »Die Miete kostet jetzt dort nicht mehr viel.« Strangman sperrte eine Tür auf und führte sie in den Hauptlagerraum, eine erstickend luftlose Höhle voller riesiger Holzkisten, der Boden mit Sägemehl bestreut. Hier gab es keine Kühlung. Der Admiral und ein zweiter Seemann folgten ihnen dicht auf den Füßen und besprühten sie immer wieder mit eiskalter Luft aus einer Leitung an der Wand. Strangman schnalzte mit den Fingern, der Admiral zog rasch die großen Leinwandtücher von den Kisten weg. In dem schwachen Licht sah Kerans am Ende des Raumes die glitzernden Umrisse eines riesigen, reich verzierten Altarstückes, mit feingearbeiter Umrandung und hohen Delphinkandelabern, darüber ein klassizistisches Proszenium, das ein kleines Haus überdacht hätte. Daneben viele Statuen, meist Spätrenaissance, an denen schwere Goldrahmen lehnten. Weiter drüben standen kleinere Triptychen und Altarstücke, eine vollständige Kanzel in Goldpaneelen, drei große Pferdestatuen – zwischen den Mähnen steckten noch Seetangsträhnen –, riesige Kathedralentore mit Gold- und Silberprägearbeit, und ein großer, mehrstufiger Marmorbrunnen. Die metallenen Regale ringsum waren voller kleiner Kunstschätze: Votivurnen, Trinkgefäße, Schilde, Waffen, prunkvolle Tintenfässer und dergleichen mehr.
Strangman führte Beatrice immer noch am Arm, mit der freien Hand wies er nach vorne, und Kerans hörte ihn sagen: »Sixtinische Kapelle« und »Mediceergrab«. Bodkin murmelte: »Vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen ist das meiste hier Mist, das nur wegen der Goldverzierungen mitgenommen wurde. Aber das ist nicht alles. Worauf ist dieser Mann eigentlich aus?«
Kerans nickte und betrachtete den Weißgekleideten vor sich, neben ihm Beatrice mit ihren nackten Beinen. Plötzlich fiel ihm das Bild von Delvaux ein, die Skelette im Frack. Strangmans kalkweißes Gesicht sah aus wie ein Totenschädel, er war auch irgendwie gespenstisch in seinen Bewegungen. Ohne besonderen Grund empfand er
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