Jeremias. Höret die Stimme by Franz Werfel

Jeremias. Höret die Stimme by Franz Werfel

Autor:Franz Werfel [Franz Werfel]
Die sprache: deu
Format: epub


Siebzehntes Kapitel.

Das Werk der Verborgenheit

Mondlose Nacht über den Hügeln von Anathot. Die beiden »furchtbaren Tage« des Herbstes sind lang vorüber. Die Luft ist schärfer geworden und ein nörgelnder Wind beschäftigt das Silberlaub der Ölbäume, die Hilkijahs großes Anwesen umstehen. Überall raschelt es von dunklem Widerspruch. Jirmijah und Baruch schleichen schweigend die uralte Mauer entlang, die das Gut des Geschlechtes wie eine Festung umgibt. Mehrere Monde haben sie sich in der Nähe Jerusalems verstecktgehalten. Nur Ahikam und seine Zwillingssöhne kannten ihren Zufluchtsort. Nun scheint die Treibjagd, die Jojakim, Elnathan und Jerachmeel hinter Jirmijah veranstaltet hatten, endgültig ermattet zu sein. Riesig war das Aufgebot dieser Treibjagd gewesen. Sie erstreckte sich in alle Nachbarländer bis nach Noph hinab. Jetzt, zu Beginn des Winters, schien der König endlich eingesehen zu haben, daß er einem Stärkeren unterlegen war. Eine Stimme jedoch geht um in Jehuda, daß seit dem Tage der großen Herausforderung durch einen Stärkeren sich Jojakims Wesen sichtbar verdüstert hat. Darf sich die Gewalt noch als Gewalt fühlen, wenn in ihrem Bezirke ein Stärkerer lebt, an dem sie nicht Rache zu nehmen vermag? Jede ungeübte Rache macht die herrschende Gewalt krank.

Für Jirmijah aber ist die Stunde der Heimkehr gekommen. Nach so vielen Monaten werden ihn die Späher des Königs überall anders vermuten als in seinem Vaterhause. Dennoch ist schon um der Mutter willen die allerhöchste Vorsicht geboten. Bereits die zweite Nacht geht dahin, seit Baruch und er die Gutsmauer heimlich umschleichen. Der Jünger ist blaß und niedergeschlagen. Unten in Anathot hat er erfahren, daß seine beiden Eltern in der Zeit seiner Verborgenheit kurz nacheinander gestorben sind. Und er hat nicht mehr Abschied nehmen dürfen von ihnen und sie begraben. Des Meisters unerbittlicher Auftraggeber beschattet auch das Wesen des Jüngers und macht es immer dunkler. Auch Baruchs Schicksal wird vom Herrn unerbittlich freigelegt und aus allen Menschlichkeiten herausgestanzt. Doch gerade der Tod der Eltern, und daß der Sohn um sie nicht wehklagen konnte, »o weh, du mein Vater – wehe, weh, meine Mutter«, ist ein starker Grund, daß Baruch unablässig Jirmijah zur Heimkehr drängt. Denn sehr alt muß Abi geworden sein, und morgen schon könnte er zu spät kommen.

Sie haben jene verfallene Stelle in der Mauer erreicht, die Jirmijah als Knabe oft erstiegen hatte, wenn er auf der Flucht vor den halben und unfertigen Raunungen von seinen nächtlichen Schweifzügen zurückkehrte und die Hoftore verschlossen fand. Auch jetzt schwingt er sich wieder leicht von Vorsprung zu Vorsprung. Sein schmächtiger Körper hat trotz allem Erlittenen nichts von seiner Geschicklichkeit und Jugendkraft eingebüßt. Rittlings sitzt er auf der Mauerkrone. Mit gedämpfter Stimme wird Baruch ermahnt, treulich zu wachen und jede nahende Gefahr in verabredeter Weise zu melden. Wer weiß, sie sind in der Dämmerung einigen bewaffneten Männern auf der Landstraße begegnet und können erkannt worden sein.

Dann springt Jirmijah in das weiche Gras hinab und bleibt eine Weile lang mit der wohligen Empfindung liegen, er träume. Nichts kann ihn von diesem träumerischen Gefühl abbringen, daß er noch immer ein Knabe sei, daß Adonai vorläufig mit ihm nur spiele, und er nach Hause komme wie immer, ohne die Schwere des Herrn und der Welt noch erlebt zu haben.



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