Ich und Kaminski by Daniel Kehlmann

Ich und Kaminski by Daniel Kehlmann

Autor:Daniel Kehlmann
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-02-03T18:41:07+00:00


VII

Nun fuhr ich also wirklich den BMW. Die Straße lief steil abwärts, die Scheinwerfer holten nur ein paar Meter Asphalt aus der Dunkelheit; die Kurven waren schwierig zu fahren. Wieder eine: Ich riß das Lenkrad herum, die Straße krümmte sich und krümmte sich stärker; ich dachte, nun müsse es vorbei sein, doch sie krümmte sich immer noch; wir kamen gefährlich nahe an den rechten Rand, der Motor gab ein hustendes Geräusch von sich, ich schaltete hinunter, er heulte auf, die Kurve war vorbei.

»Sie müssen früher schalten«, sagte Kaminski.

Ich verkniff mir eine Antwort, schon war die nächste Kurve da, und ich mußte mich konzentrieren: Schalten, etwas weniger Gas, zurückschalten, der Motor gab ein tiefes Brummen von sich, die Straße streckte sich in die Gerade.

»Sehen Sie!« sagte er.

Ich hörte sein Schmatzen, sah aus dem Augenwinkel die Bewegung seiner Kiefer. Er hatte die schwarze Brille aufgesetzt, die Hände im Schoß gefaltet und den Kopf zurückgelegt, über Hemd und Pullover trug er immer noch den Schlafrock. Ich hatte seine Schuhbänder zugebunden und ihn angeschnallt, aber er hatte den Gurt sofort wieder geöffnet. Er sah blaß und aufgeregt aus. Ich öffnete das Handschuhfach und legte das eingeschaltete Diktaphon hinein.

»Wann war Ihre letzte Begegnung mit Rieming?«

»Einen Tag bevor sein Schiff ablegte. Wir gingen spazieren, er trug zwei Mäntel übereinander, weil ihm kalt war. Ich sagte, daß ich Probleme mit dem Sehen hatte, er sagte: ›Üben Sie Ihr Gedächtnis!‹ Er schlug ständig die Hände zusammen, und seine Augen tränten. Chronisch entzündet. Er war sehr besorgt wegen der Reise, er hatte Angst vor dem Wasser. Richard hatte Angst vor allem.«

Plötzlich waren wir in der längsten Kurve, die ich je gesehen hatte: Mir war, als ob wir uns im Kreis drehten, fast eine Minute lang. »Und seine Beziehung zu Ihrer Mutter?«

Er schwieg. Die Häuser des Dorfes tauchten auf: Schwarze Schatten, erleuchtete Fenster, ein Ortsschild, ein paar Sekunden schwebten Straßenlaternen über uns, der Hauptplatz zeigte seine hellen Auslagen. Noch ein Ortsschild, diesmal durchgestrichen, dann wieder Dunkelheit.

»Er war einfach da. Er bekam zu essen, las seine Zeitung und ging abends in sein Zimmer, um zu arbeiten. Mama und er waren immer per Sie.«

Die Kurven wurden weiter. Ich hielt das Lenkrad lockerer und lehnte mich zurück. Allmählich gewöhnte ich mich daran.

»Er hatte natürlich keine Lust, mein Gekritzel in sein Buch aufzunehmen. Aber er hatte Angst vor mir.«

»Wirklich?«

Kaminski kicherte. »Ich war fünfzehn und ein bißchen wahnsinnig. Der arme Richard dachte, ich wäre zu allem fähig. Ein angenehmes Kind war ich jedenfalls nicht!«

Ich schwieg verdrossen. Natürlich wäre das, was er mir da sagte, eine Sensation; aber womöglich wollte er mich nur in die Irre führen, es klang einfach nicht wahrscheinlich. Wen hätte ich fragen können? Neben mir saß der letzte Mensch, der Rieming noch gekannt hatte. Und alles, was dieser außerhalb der Bücher gewesen war - die beiden Mäntel, das Händeklatschen, die Furcht und die tränenden Augen -, würde mit seinem Gedächtnis verschwinden. Und vielleicht würde ausgerechnet ich einmal der letzte sein, der sich noch... Was war los mit mir?

»Mit Matisse war es ähnlich. Er wollte mich hinauswerfen.



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