Ich heiße nicht Miriam by Majgull Axelsson
Autor:Majgull Axelsson [Axelsson, Majgull]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-10-22T16:00:00+00:00
Bald wurde das Leben in Ravensbrück zum Alltag. Hungeralltag. Müdigkeitsalltag. Prügelalltag.
Appell. Rote-Bete-Sud. Trockenes Brot. Marsch zur Fabrik. Die Müdigkeit wegblinzeln. Sich wegducken. Nähen. Nähen. Nähen. Elf Stunden lang. Marsch von der Fabrik weg. Suppe. Trockenes Brot. Die Koje. Appell. Schlaf. Aufwachen! Appell. Rote-Bete-Sud. Trockenes Brot. Marsch zur Fabrik. Nähen. Nähen. Nähen. Elf Stunden lang. Marsch von der Fabrik weg. Suppe. Trockenes Brot. Die Koje. Appell. Schlaf.
Tagein und tagaus.
Es war Herbst geworden, und plötzlich war es so kalt, dass man seinen eigenen Atem sehen konnte, eine zarte kleine Wolke stieg von ihrem Mund auf, wenn Miriam abends auf die Industriestraße trat. Sie war todmüde. Sie ging zwei Schritte hinter Else, war aber nicht einmal in der Lage, eine Hand zu heben, um ihre Bluse anzufassen, blinzelte nur erschöpft und schlurfte weiter. Sie hatte nicht gedacht, dass man so müde werden konnte. Die Arbeit war ja nicht schwer, nachdem sie einmal gelernt hatte, die Ärmel einzunähen, war sie sogar richtig einfach. Sie durfte den ganzen Tag sitzen. Niemand trieb sie an, einen Graben auszuheben. Niemand peitschte sie, damit sie eine schwere Walze über eine neu angelegte Straße zog. Nicht einmal schwere Eimer hatte sie tragen müssen. Und dennoch war sie erschöpft. Todmüde von mehreren Jahren des Hungers. Gebrochen an ihrer eigenen Resignation. Erschlagen von ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit. Sie konnte nicht einmal mehr phantasieren. Didi war kein kleiner blauer Vogel mehr. Er war einfach nur tot.
Eines Tages blieb Else direkt vor der Baracke stehen.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie mit ihrer sanftesten Stimme und legte eine Hand auf Miriams Schulter.
Miriam antwortete nicht, zuckte nur leicht mit den Achseln. Vielleicht wurde sie ja auch ein Muselmann, trotz allem. Das Gefühl hatte sie. Sollte ihr an diesem Abend jemand das Brot stehlen, hätte sie nicht die Kraft, hinter dem Dieb herzujagen, würde nur still sitzen bleiben und schweigend hungern. Aber Else hakte sie unter, zog sie mit sich und sprach schnell auf sie ein.
»Es läuft doch gut für dich. Du hast ein Talent fürs Nähen. Und heute hast du nicht eine einzige Ohrfeige gekriegt. Nicht eine einzige! Der Oberscharführer mag dich, und das hat diese alte Aufpasserin gemerkt, deshalb lässt sie dich in Ruhe …«
Schnell strich sie Miriam über die Wange.
»Nun komm«, sagte sie. »Lykke hat bestimmt etwas für uns besorgen können. Und denk dran: Heute teile ich die Suppe aus.«
Es war immer noch überfüllt in der Baracke, mehr als überfüllt sogar, weshalb Else schieben, drängeln und boxen musste, damit alle hineinkommen konnten, und dann mussten sie versuchen, sich so gut es ging zu ihrer Koje durchzudrängeln. Lykke kauerte bereits da oben und hob die Hand zum Gruß. Sie war immer noch so schwach, dass sie von Else und Miriam gestützt werden musste, wenn es Zeit für den Appell war, deshalb war sie für ganze vier Tage krankgeschrieben worden. Einen Teil dieser Tage verbrachte sie damit, unendlich langsam von einer Oberkoje zur anderen durch die ganze Baracke zu kriechen und im Stroh nach etwas Essbarem zu suchen. Sie fand nicht viel, doch was sie fand, das war wertvoll.
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