Hungerkralle by Jürgen Ebertowski

Hungerkralle by Jürgen Ebertowski

Autor:Jürgen Ebertowski [Ebertowski, Jürgen]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2010-10-05T13:46:14.406000+00:00


11. Kapitel

Hungerwinter

Der Wind kam gleichmäßig und schneidend. Das matte Licht einer silbrigen Januar-Sonnenscheibe beschien eine weiße Fläche, die sich wie ein sorgfältig geglättetes, schier endloses Tuch bis zu der Anhöhe am Horizont erstreckte. Das Birkenwäldchen, das dort gestanden hatte, war von den Anwohnern der Braunschweiger Stadtrandsiedlung bereits vor Weihnachten restlos abgeholzt worden.

Vera hatte den Kindern ihrer Wirtin zwei »Pazifiks« vorbeigebracht, zwei Verpflegungspäckchen, die eigentlich für britische Truppen in Fernost bestimmt waren und die je eine Tagesration Nahrung für einen Soldaten enthielten. Danach war sie der Witwe dabei zur Hand gegangen, für die Zwillinge einen Wintermantel aus einem amerikanischen Rucksack zu schneidern. Sie würden ihn abwechselnd anziehen müssen. Bei der Näharbeit trugen die Frauen Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern, denn die letzte Fuhre Holz und Kohlen, die Brians Adjutant vorbeigebracht hatte, wurde dringend zum Kochen in dem Haus in der Vorortsiedlung benötigt, wo Vera noch immer die Dachkammern bewohnte.

Der Colonel war jetzt oft in Berlin, und er und Vera trafen sich seltener. Seit man die Erkennungsmarke des zweiten Sohnes in einem Massengrab bei El Alamein gefunden hatte, war er von Stunde an wie verändert gewesen. Er vergrub sich zunehmend in seine Arbeit. Den jovialen, charmanten Brian Teasdale gab es nicht mehr. Nicht dass er sich Vera gegenüber in irgendeiner Weise inkorrekt verhielt, aber der Schmerz über den Verlust beider Söhne hatte ihn mehr und mehr zur Flasche greifen lassen. Erst wenn er genügend Alkohol getrunken hatte, war er bisweilen wieder gesprächig wie früher. Er redete dann oft von Malta. Durch Freunde im Londoner War Office hatte er erfahren, dass man beabsichtigte, ihn eventuell dorthin zu versetzen.

»Würdest du mitkommen? Auf Malta schneit es nie. Man kennt dort keinen Frost, es gibt Oliven-und Zitronenhaine und rundherum blaues Meer.«

Vera hatte weder Ja noch Nein gesagt, obwohl der Gedanke schon sehr verlockend war, Deutschland, den Ruinen, dem Hunger und Frost den Rücken zu kehren. Aber dann war ihr eine englische Zeitschrift mit Fotos von Malta in die Finger gekommen. Darauf waren keine Zitronen-oder Olivenhaine zu sehen gewesen, sondern verwüstete Städte und Dörfer, und sie hatte gelesen, dass die deutsche und italienische Luftwaffe mehr Bomben über dem maltesischen Archipel pro Quadratkilometer abgeworfen hatten als die Alliierten über Berlin.

Vera stieg die Treppe zum Dachgeschoss hinauf. In der vorherigen Nacht hatte ein Knacken sie geweckt. Der Steingutkrug, in den sie das Kaffeewasser fürs Frühstück gegossen hatte, war auf dem Küchentisch zersprungen. Inmitten der Scherben hatte ein Eisblock gestanden.

Vera stellte vorsichtshalber den Wecker auf fünf und kroch, ohne die Kleider abzulegen, ins Bett. Sie war nicht müde, aber vielleicht döste sie doch ein wenig ein. Leutnant Brown, Brians Adjutant, würde sie um achtzehn Uhr abholen und zum Forsthaus fahren. Der Colonel wollte im kleinen Kreis seinen Geburtstag feiern. Vera hoffte nur inständig, dass er sich dann nicht wieder sinnlos mit Gin betrinken würde.

Die Café-Bar Oriental war vermutlich die luxuriöseste Wärmestube in Berlin, aber auch dort legte niemand mehr das Jackett ab. Es lag keineswegs daran, dass Benno das Heizmaterial ausgegangen wäre: Der an sich gut dimensionierte Kachelofen der Restauration vermochte den großen Saal einfach nicht mehr ausreichend zu erwärmen.



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