Heul doch , Wessi by Holger Witzel

Heul doch , Wessi by Holger Witzel

Autor:Holger Witzel [Witzel, Holger]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Eulenspiegel Verlag
veröffentlicht: 2015-09-10T16:00:00+00:00


»Wir sind überzeugt, dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit, und Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität bedeutet.«

Michail Bakunin

Mach’s noch einmal,Fred!

Vor 25 Jahren rottete sich in Leipzig die erste größere Demonstration seit dem Volksaufstand 1953 zusammen. Einer der Rädelsführer kehrt nun heim. Eine Heldengeschichte

Fred wird mich dafür hassen, vielleicht boxen oder wieder penetrant bescheiden tun: Er sei es ja nicht allein gewesen; andere saßen für die Aktion länger im Knast; alles lange her ... Aber wenn selbst »Geo Epoche« die alte Geschichte epochal genug findet, nutzen seine Einwände wenig.

»Die DDR«, heißt das Heft, in dem westdeutsche DDR-Experten den »Alltag im Arbeiter-und-Bauern-Staat« beschreiben. Am Rand geht es aber auch um den weniger alltäglichen Widerstand einer Minderheit, die am 15. Januar 1989 – lange vor den großen Massendemonstrationen – viele Leipziger ermutigte: Eine Art Initialzündung für den Herbst oder wie Westsender damals berichten – »die größte Anti-SED-Demonstration seit dem Volksaufstand 1953«.Mit Wachsmatrizen haben ein paar junge Leute vorher mehr als 10 000 Flugblätter gedruckt. Allein diese Auflage ist ein kleines Wunder: Jede Wachsvorlage reicht gerade für etwa hundert Blatt. Papier ist knapp, alles illegal und hochkonspirativ. Nachts schwärmen sie aus und stopfen die Demoaufrufe in Leipziger Briefkästen. Rund 5000 sind verteilt, als die Stasi zuschlägt. Ein Spitzel hat die Namen nach Berlin gemeldet.

Bis auf Fred sitzen am nächsten Morgen alle Verschwörer im Knast. Aus Vorsicht oder anderen Gründen mit weiblichen Vornamen schläft er selten zu Hause. Er ist überhaupt das staatsfeindlichste Subjekt, das ich damals kenne: Betreibt eine illegale Bar, prügelt sich mit FDJ-Ordnern, geht keiner geregelten Beschäftigung nach – alles Grund genug, in der DDR wegen »asozialer Lebensweise« eingesperrt zu werden. Weil er nicht studieren darf und für die Totalverweigerung der Armee auch nicht in den Knast will, hat er einen Ausreiseantrag laufen. Es ist ein zwiespältiger Ausweg, denn eigentlich will er nicht mehr unbedingt weg. Zwar ahnt noch niemand, wie schnell so ein System zusammenbrechen kann, wenn sich viele ein Herz nehmen. Aber immer mehr Leute spüren auch, dass etwas möglich ist. Dass man etwas tun kann. Muss. Ihre Flugblätter damals – und das ist die eigentliche Ironie der Geschichte – könnte man 2014 noch genauso formulieren: »Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft«, nennen sie sich und finden es »an der Zeit, mutig und offen zu sagen: Schluss mit der lähmenden Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit!«

Wie die NSA heute in E-Mail-Postfächern fischen Stasi-Leute im Januar 1989 mit Pinzetten aus Briefkästen, was sie noch kriegen können. In Wien – mehr Kalkül als Zufall – tagt gerade die KSZE-Folgekonferenz. Die Abschlussvereinbarung verpflichtet alle Unterzeichner auf die in sechzehn Jahren ausgehandelten Menschen- und Bürgerrechte, darunter auch die DDR. Über Dissidenten aus Polen und der Tschechoslowakei hat man bis Wien von den Leipziger Verhaftungen gehört. Bundesaußenminister Genscher und sein US-Kollege George P. Shultz protestieren in Reden. Der Deutschlandfunk berichtet. Und so versammeln sich am 15. Januar auf dem Leipziger Markt doch noch mehrere hundert Leute. Die Erinnerungen schwanken zwischen 500 und 800 – jedenfalls eine unglaubliche Menge für die immer noch bleierne Zeit.

Gegen 16 Uhr steigt Fred auf die Brüstung des Untergrundmessehauses.



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