Für einen Augenblick wachsen uns Flügel. Eine Kindheit 1933–1945 by Irmtraut Balz

Für einen Augenblick wachsen uns Flügel. Eine Kindheit 1933–1945 by Irmtraut Balz

Autor:Irmtraut Balz [Balz, Irmtraut]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462410150
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2016-10-20T00:00:00+00:00


Ich hatte ganz vergessen, wie groß Vater ist. Unter jedem Türrahmen muß er sich bücken. Die Müllerin hat Käsekuchen gebacken, dazu gibt es Heidelbeersahne. Vater will nicht glauben, wie gut wir hier leben. Dann erzählt er von den Nächten im Luftschutzkeller, von den langen Totenlisten in der Zeitung mit den Namen der Frauen, Männer und Kinder, die in Massengräbern bestattet wurden und von den ausgebrannten Straßenzügen in der Innenstadt, wo die Toten noch unter den Ruinen liegen. Und er spricht von einem Wunder, das im Boden Kölns verborgen gewesen war, dem Dionysos-Mosaik. Dieser Fußboden eines Speisesaals aus römischer Zeit wurde vollkommen erhalten bei den Ausschachtungsarbeiten für den Dombunker freigelegt. Vater schüttelt traurig den Kopf, ausgerechnet jetzt in dieser Zeit des Mordens und des Todes erreicht uns dieser Gruß des Lebens über die Jahrtausende hinweg. Das Kunstwerk wurde wieder zugeschaufelt, für bessere Tage unter dem Dombunker begraben. Auch die Lebensmittelrationen reichen nicht immer, fährt Vater fort. Oft sind die Lieferwege unterbrochen, oft muß man lange für die aufgerufenen Abschnitte anstehen. Vieles geht unter dem Ladentisch weg. Hat man keine Beziehungen, muß man sich mit Tausch oder guten Worten ein Zubrot auf dem Lande besorgen. Zum Glück hat er Felder in der Eifel verpachtet, und die Bauern zahlen den Pachtzins in Kartoffeln. Wenn man an andere denkt, die alles verloren haben, können wir noch nicht klagen, schließt er.

Die armen Menschen, sagt der Müller, laßt uns Gott danken, daß es uns hier noch einigermaßen gut geht, obwohl wir auch unsere Sorgen haben. Der Sohn und Schwiegersohn im Feld, die Tochter so jung und muß schon alleine zurecht kommen. Dann die Mühle in diesen Zeiten, die Leute im Krieg und weiter nichts als Ärger. Der Müller redet seinen Kummer groß, bis der unsere schrumpft. Dann zündet er sich eine Pfeife an und schweigt.

Erzähl deinem Vater von deinem Freund, fordert mich die Müllerin lächelnd auf. Wir haben es nicht gerne gesehen, fügt sie hinzu und breitet dann haarklein die Kornkammergeschichte vor Vater aus. Das hätte ich nicht von ihr gedacht. Jetzt würde ich ihr bestimmt keinen Kuß mehr geben. Aber Vater lacht, das kennen wir, immer handeln, wie es ihr gerade durch den Kopf geht. Ich hüte mich zu widersprechen. Morgen wollen wir eine Wanderung machen, willst du deinen Freund nicht mitnehmen, fragt Vater. Jetzt staunt die Müllerin.

Am Samstag höre ich dann von Vater das gefürchtete »Sieh mal«. Der Müller will seine Mühle aufgeben, weil er zu alt ist für die Plackerei, und mich wollen sie auch aufgeben, weil sie zu alt sind für meine merkwürdigen Einfälle. Mir ist, als fiele ich in ein tiefes, dunkles Loch. Von fern höre ich Vater sagen, das ist doch nicht so schlimm, du kommst nach den Ferien sowieso ins Gymnasium, und wir suchen dir in Zittau neue Pflegeeltern. Aber ich will nicht in eine fremde Stadt zu fremden Leuten, ohne Mühle, ohne Müller, ohne Max und Liese und ohne Erich. Schon fließen meine Tränen. Doch Vater gibt nicht auf, führt sein stärkstes Geschütz ins Feld, sieh mal, wir wissen nicht, was mit uns geschieht bei den dauernden Luftangriffen.



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