Flucht ohne Ende by Roth Joseph

Flucht ohne Ende by Roth Joseph

Autor:Roth, Joseph [Roth, Joseph]
Die sprache: eng
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-06T05:00:00+00:00


Kapitel 18

Es war ein kleines Sonntagsfest. Die Teilnehmer sahen zwar nicht so aus, als müßten sie auf einen Sonntag warten, um ein Fest mitzumachen. Denn sie gehörten den gehobenen Ständen an, jenen Ständen, die auch am Mittwoch oder am Donnerstag oder selbst am Montag eingeladen werden konnten und auch eingeladen wurden. Es waren Künstler, Gelehrte und Gemeinderäte. Ein Zweiter Bürgermeister, der musikalisch interessiert war, befand sich unter den Gästen. Ein Professor der Universität, der am Freitag von sechs bis acht Uhr abends las und von den Damen der Gesellschaft frequentiert wurde. Ein Schauspieler, der im Staatstheater in Berlin mit Erfolg gespielt hatte. Eine junge kleine Schauspielerin, die zwar mit dem dicken Zweiten Bürgermeister geschlafen hatte, aber unbeschädigt aus seiner Umarmung wieder herausgekommen war und teilweise sogar erfrischt. Ein Museumsdirektor, der ein paar Arbeiten über van Gogh geschrieben hatte, obwohl ihm Böcklin am Herzen lag. Der Musikkritiker eines größeren Blattes, der einen stillschweigenden Pakt mit dem Kapellmeister geschlossen zu haben schien.

Der und jener hatte seine Frau mitgebracht. Die Damen zerfielen in zwei Gruppen: in elegante, die nach Paris tendierten, und in sachliche, die an die masurischen Seen erinnerten. Es lag ein Glanz von Stahl und Sieg um die letzteren. Hier und dort trug eine ein geschlitztes Kleid. Es bildeten sich drei Gruppen. Erstens: die sachlichen Damen; zweitens: die eleganten Damen; drittens: die Männer. Nur Franz und seine Schwägerin pendelten zwischen den drei Gruppen hin und her und spendeten Erfrischungen. Um Franz, der in einer sibirischen Gloriole steckte und den großen Atem der Steppe und des Eismeers verbreitete, bewarben sich die kühnen Blicke einiger eleganter Frauen. Männer klopften ihm auf die Schulter und schilderten ihm, wie es in Sibirien aussah. Der Musikkritiker erkundigte sich nach der neuen Musik in Rußland. Er wartete aber keine Antwort ab, sondern begann einen Vortrag über das Moskauer Orchester ohne Dirigenten zu halten. Der Museumsdirektor kannte die Petersburger Ermitage auswendig. Der Professor, der Marx verachtete, zitierte die Stellen, in denen Lenin sich selbst widersprach. Er kannte sogar das Buch Trotzkis von der Entstehung der Roten Armee.

Es war keine richtige Organisation in den Gesprächen. Diese zu schaffen, war ein Fabrikant berufen, der erst gegen Mitternacht eintraf. Es war ein Ehrendoktor und ein Klubmitglied. Mit rotem Gesicht, mit verzweifelt suchenden Händen, die an die Hände Ertrinkender erinnerten, obwohl der Fabrikant mit beiden Füßen auf festem Boden stand, begann er, Tunda ins Verhör zu nehmen.

Der Fabrikant hatte Konzessionen in Rußland. »Wie steht es mit der Industrie im Uralgebiet?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, gestand Tunda.

»Und wie mit dem Petroleum in Baku?«

»Ganz gut«, sagte Tunda und fühlte, wie er Boden verlor.

»Sind die Arbeiter zufrieden?«

»Nicht immer!«

»Da haben wir's«, sagte der Fabrikant. »Also die Arbeiter sind nicht zufrieden. Aber Sie wissen verdammt wenig von Rußland, lieber Freund. Man verliert so die Distanz zu den Dingen, wenn man in der Nähe ist. Das kenne ich. Das ist keine Schande, lieber Freund.«

»Ja«, sagte Tunda, »man verliert die Distanz. Man ist den Dingen so nahe, daß sie einen gar nichts mehr angehen. So wie Sie sich nicht darum kümmern, wieviel Knöpfe Ihre Weste hat.



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