Evers, Horst by Fuer Eile habe ich keine Zeit

Evers, Horst by Fuer Eile habe ich keine Zeit

Autor:Fuer Eile habe ich keine Zeit [Zeit, Fuer Eile habe ich keine]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi


Was viele denken

Vor ein paar Nächten habe ich geträumt, ein Sack Reis wäre auf Thilo Sarrazin gefallen. Die Freundin meinte am nächsten Tag, ich hätte im Schlaf gelacht.

Daran muss ich denken, als sich am frühen Sonntagmorgen im Regionalzug von Kiel nach Hamburg zwei Ehepaare über das Buch von Sarrazin unterhalten. «Sarrazin hat völlig recht», verkündet einer der Männer, die wohl in einer Kleinstadt bei Kiel leben. Er wisse das aus erster Hand, er sei ja hin und wieder beruflich in Berlin, und da habe er auch schon beobachten können, dass dort alle Deutschen längst ständig große Angst haben, aus dem Haus zu gehen. Also zumindest in den entsprechenden Bezirken. Es ist eigentlich schon etwas ruhiger geworden um Herrn Sarrazin. Aber sicher nicht für lange. Früher hat man Harald Juhnke betrunken gemacht, wenn man in Berlin eine Schlagzeile brauchte, heute hält man Thilo Sarrazin ein Mikrophon hin.

Bald wird man ihm sicher wieder die Gelegenheit geben, Schwächere mit einem Scherz zu demütigen. Immerhin verdankt ihm die Soziologie nun den neuen Begriff des Sarrazin-Deutschlands; was früher als dumpfe Masse mühsam umschrieben werden musste, kann jetzt mit dieser Bezeichnung schnell und einfach benannt werden. Das spart Zeit.

«Wir dürfen uns unser Land nicht wegnehmen lassen, auch nicht einzelne Stadtteile!», ruft der andere Mann. «Wir brauchen einen Aufstand der Mutigen. Mutige wie Thilo Sarrazin. Dieser Mann spricht aus, was viele denken!» Sein Blick wandert durch den Waggon, als wolle er schauen, ob nicht jemand klatschen will. Denke, das ist der Nachteil, wenn einem ein Erste-Klasse-Ticket gezahlt wird. Die Zahl der mutigen Rebellen ist hier einfach deutlich höher. Im Hamburger Hauptbahnhof habe ich eine halbe Stunde Aufenthalt. Beschließe, ein wenig frische Luft zu schnappen. Fast direkt vor dem Haupteingang entdecke ich dabei einen sehr, sehr, sehr betrunkenen Mann. Aber er ist nicht einfach normal, sondern schon irgendwie anrührend betrunken. Geradezu herzerwärmend. Ein Zustand der Trunkenheit, dem man genau ansehen kann: Das ist ihm nicht in den Schoß gefallen. Daran hat er lange, richtig lange in äußerst mühevoller Kleinarbeit gefeilt. Vermutlich war er die ganze Nacht beschäftigt, bis er endlich diese Qualität der Trunkenheit erreicht hat. Das war sicher anstrengend, weshalb sich in seinem Gesicht auch eine gewisse Erschöpfung und Verzweiflung spiegelt. Verzweiflung, die klar erkennen lässt: Schon der Tag vor der Nacht kann für ihn nicht gut verlaufen sein. Das hat offensichtlich mit dem Anziehen angefangen, wie man an der Hose mehr als deutlich erkennen kann. Schon das Anziehen hatte nicht gut geklappt und war bis jetzt auch noch nicht richtig abgeschlossen. Wer kennt nicht solche Tage?

Da stand also dieser völlig betrunkene Mann mit offener Hose und großen, traurigen Augen im Bahnhof und schrie verzweifelt: «Ich will doch nur ficken, fressen und saufen!!!» Und ich dachte: Ja, dieser Mann spricht aus, was viele denken. Und sollte er deshalb jetzt Bücher schreiben? Oder seine Thesen in Talkshows vertreten und darüber diskutieren? Mit Herrn Baring und Erika Steinbach? Wobei noch erschwerend dazukommt, dass sein Themenbereich mich eigentlich viel mehr interessieren würde als Sarrazins Eitelkeiten. Diese Problematik ist mir viel näher, hat viel mehr mit meiner Lebenswirklichkeit zu tun.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.