Esel by Michael Gantenberg

Esel by Michael Gantenberg

Autor:Michael Gantenberg
Die sprache: de
Format: mobi
ISBN: 9783104007564
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2011-07-03T22:00:00+00:00


»Björn?«

Sabines Stimme ist jetzt sehr leise.

»Björn?«

Sie wird immer leiser.

»Björn.«

Verdammt, ich höre sie kaum noch.

»Björn?«

25. Plötzen und die Tunica Albuginea

Das kleine Dorf am Niedersee hat bestimmt schon eine ganze Menge erlebt – die von Arnims, als Vertreter der deutschen Romantik, die Russen, als Vertreter der Siegermächte, die Polen, als freundliche Repräsentanten des Nachbarlandes, FDJ-Aktivisten mit Zeltstangen und Treuhand-Diplomaten mit An- und Verkaufsabsichten, aber einen Gymnasiallehrer, der, mit dem Rücken auf einem Esel liegend, über die nur halbasphaltierte Dorfstraße geführt wird, so was hat Plötzen bestimmt noch nie gesehen.

Ich weiß nicht, wovon mir übler wird, von dem Geschaukel, das Friedhelm verursacht, oder von dem Schmerz, der immer noch in meinem Körper wütet.

»Geht’s noch?«, will Sabine wissen.

»Sabine, bitte.«

»Ich frag’ ja nur … hier gibt es bestimmt einen Arzt. Jetzt wird alles gut.«

Lüge! Aber nett gemeint, ich weiß. Hier wird nie etwas gut, hier gelingt es noch nicht mal, die Straße vollständig zu asphaltieren, wie soll dann alles gut werden. Ich bin ungerecht, aber ich habe Schmerzen, das entschuldigt alles.

»Tut’s noch weh?«

Was für eine Frage. Wenn ich dir nicht so dankbar sein müsste, weil du mich aus diesem Fichtennadel-Gulag in die Zivilisation geschleppt hast, dann würde ich jetzt …

»Keine Angst, gleich geht’s dir besser.«

Natürlich. Gleich. Ganz bestimmt.

Ich richte mich auf, so gut es geht, und schaue direkt in die Augen eines alten Mannes, der vor seinem Haus steht und sich nicht ganz sicher ist, was er von mir halten soll. Der Mann in dem blassgelben Trainingsanzug dreht sich nach hinten, um weitere Zeugen meiner Einwanderung zu holen.

»Margot, komm mal.«

»Was ist denn?«, fragt jemand aus dem Hintergrund.

»Komm.«

»Warum?«

»Komm.«

Und schon ist sie da – die Margot. Man muss sie nur dreimal bitten, dann reagiert sie beinahe spontan. Die gute Frau.

Auch sie trägt einen Trainingsanzug, scheint ihn aber nicht so oft zu benutzen wie ihr Mann. Das Gelb ist deutlich weniger verblasst. Vielleicht wäscht sie ihn auch nur weniger, doch so genau möchte ich es gar nicht wissen.

Margot schaut mich an, verzieht dabei aber keine Miene.

Ich nicke den beiden zu. Sie nicken nicht zurück. Wahrscheinlich wollen sie nichts riskieren, weder Freundlichkeit noch Abweisung. Angewandte Neutralität, ein Hauch von Schweiz, mitten in der Uckermark.

»Gibt es hier einen Arzt?«, will Sabine von den beiden Trainingsanzügen wissen.

»Wo?«, fragt der Mann.

»Hier«, antwortet Sabine.

Ich verdrehe die Augen, das darf doch alles nicht wahr sein.

»Nee«, antwortet die Frau des Mannes.

»Wo ist denn der nächste Arzt?«

»In Katwitz.«

»Nee, der ist tot.«

»Stimmt, dann in Molchow.«

»Ja, Molchow.«

Margot und ihr Mann scheinen sich nun sicher zu sein. Katwitz nicht, Molchow schon.

Ich habe es geahnt, diese Reise wird meine letzte sein. Weiß der Teufel, wie weit es noch bis Molchow ist.

»Wie weit ist es denn noch bis Molchow?«, erkundigt sich Sabine für mich.

»Zwölf Kilometer«, sagt der Mann.

»Vierzehn«, sagt Margot und schaut ihren Mann dabei fast strafend an.

»Zwölf.«

»Vierzehn.«

Dann denkt er nach, vielleicht hat sie recht. Zwei Kilometer Unterschied, da kommt man ins Grübeln, ganz egal, ob da jemand auf einem Esel liegt und Schmerzen hat oder nicht.

Aber jetzt fällt ihm ja schon ein, wie es zu den zwei Kilometer Unterschied zwischen seiner und ihrer Meinung gekommen ist.



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