Endzeit Roman by Harald Gilbers

Endzeit  Roman by Harald Gilbers

Autor:Harald Gilbers [Gilbers, Harald]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426426531
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Bereits am nächsten Tag sollte Oppenheimer einen weiteren Hinweis auf Lisas Vergewaltiger bekommen. Dabei startete die neue Woche ausgesprochen harmlos mit Schmudes Hinweis, dass er beim täglichen Holzklauen bemerkt habe, wie an ihm gleich mehrere Fahrräder mit rasselnden Speichen vorbeigefahren waren. Die Berliner waren jetzt wohl auf den Trick gekommen, die Reifen von ihren Drahteseln abzumontieren, damit sie nicht von den Russen entwendet wurden. Oppenheimer nahm diese Idee dankbar auf und entfernte ebenfalls die Reifen, doch als er es geschafft hatte, sich schwer pustend bis zum Ku’damm zu strampeln, bereute er diese Entscheidung bereits wieder.

Völlig durchgeschwitzt stieg er vor Edes Nachtbar von seinem Fahrrad ab. Dann hielt er inne, weil er glaubte, eine bekannte Person zu erblicken, die eine am Straßenrand geparkte Limousine mit glänzender schwarzer Lackierung verließ. Die untersetzte Statur in der makellosen Uniform war unverwechselbar. Es war Aksakow.

Er schien bereits einige Zeit auf Oppenheimer gewartet zu haben. Ihm fiel wieder ein, dass er Edes Laden als Kontaktadresse hinterlassen hatte, jedoch ohne Angabe, zu welcher Zeit er dort anzutreffen war.

Aksakows Metallzähne blitzten auf, als er Oppenheimer ansprach und dabei zu dem Auto wies. Obgleich Oppenheimer von Aksakows Gebrummel so gut wie nichts verstand, war offenkundig, dass er mitkommen sollte.

So gut es ging versuchte Oppenheimer, Aksakow zu vermitteln, dass er das Rad noch schnell in Edes Etablissement abstellen wollte. Immerhin war er so geistesgegenwärtig gewesen, Hilde nach dem entliehenen Soldatenwörterbuch zu fragen, eine Übersetzung für hinein oder drinnen ließ sich jedoch nicht finden. Also stotterte er so etwas wie: »Maschina tam.« Dabei gestikulierte er mit ausgestrecktem Zeigefinger von seinem Fahrrad zur Nachtbar. Schließlich verstand Aksakow und nickte ihm mit einer betonten Gleichgültigkeit zu, wie sie wohl nur Russen in ihrem Repertoire hatten.

Die Autofahrt dauerte länger als erwartet, denn der Fahrer mit den asiatischen Gesichtszügen orientierte sich in Richtung Osten, überquerte die Spree auf der wundersamerweise intakt gebliebenen Schilling-Brücke und folgte dann dem Ufer entlang nach Süden. Wo immer sie auch hinfuhren, ihr Ziel schien nicht das Feldquartier zu sein, wo er Aksakow zum ersten Mal begegnet war.

Schon den ganzen Tag über war es unerträglich schwül gewesen. Trotz der heruntergekurbelten Seitenfenster herrschte im Inneren von Aksakows Wagen eine geradezu drückende Hitze. Die Atmosphäre zwischen ihnen blieb allerdings kühl. Der Oberst blickte angespannt geradeaus, ganz so, als würde er allein auf der Rückbank sitzen. Die einzige wahrnehmbare Bewegung waren die in den Kragen kullernden Schweißperlen.

Mittlerweile war Oppenheimers Überraschung so weit abgeklungen, dass er darüber nachdachte, weswegen ihn Aksakow bei Ede abgefangen hatte. Instinktiv überlegte er, ob er etwas verbrochen hatte, was von den Sowjetbehörden geahndet wurde, doch außer der gestrigen Episode mit dem kichernden Kumpanen des Vergewaltigers fiel ihm beim besten Willen nichts ein. Und dass jemand einkassiert wurde, nur weil er einem russischen Soldaten mit einer zertrümmerten Flasche nachlief, kam Oppenheimer höchst unwahrscheinlich vor.

Nicht einmal der Blick aus dem Fenster half, ihn auf andere Gedanken zu bringen, denn eine Wolkenwand zog über Berlin. Unter zuckenden Blitzen gaben Gebäude mit eingefallenen Außenwänden unfreiwillig den Blick auf Betonstreben, Holzböden und freiliegende Leitungen frei. Dazwischen menschenleere Straßen, auf denen eine geisterhafte Stille lastete.



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