Ein ganz besonderes Jahr by Montasser Thomas

Ein ganz besonderes Jahr by Montasser Thomas

Autor:Montasser, Thomas [Montasser, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492965354
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2017-04-22T16:00:00+00:00


NEUN

Zum Duschen und Schlafen war sie in letzter Zeit noch hier. Um ungestört lesen und auch mal wieder einen Kaffee trinken zu können. Doch der Computer in der Arbeitsecke war kaum noch in Betrieb gewesen und im Kühlschrank herrschte chronisch Leerstand – Valerie kam einfach nicht mehr zum Einkaufen. Einen Laden zu führen, hieß nun mal, zu Geschäftszeiten anwesend zu sein. Andererseits, wann immer sie in ihre kleine, nun, eigentlich sehr kleine Wohnung kam, war Valerie erstaunt, wie profan diese vier Wände waren: kein Samowar. Keine achtzehn Teesorten. Keine kleine Ratte, mit der man sich unterhalten konnte. Kein quasiantiker Lesesessel. Und kaum Bücher, jedenfalls keine anderen als Fachbücher und ein paar Comics, die Sven irgendwann einmal angeschleppt hatte.

Rückblickend musste Valerie sich eingestehen, dass es schon nach den ersten Tagen so gewesen war, als käme sie nach Hause, wenn sie den Buchladen wieder betrat. Inzwischen fühlte sie sich hier manchmal ganz fremd, so als wäre dieses Apartment Teil eines ganz anderen Lebens, Ringelnatz & Co. aber Teil ihres Lebens.

Die Briefe, die sie mitgenommen hatte, waren zum Teil ganz rührend. Eine Lehrerin dankte Tante Charlotte, weil sie durch das Buch (leider stand da nicht, welches es gewesen war), das ihr die Buchhändlerin als Klassenlektüre empfohlen hatte, endlich wieder Zugang zu meinen Schülern gefunden hatte, und zwar obwohl ich diesen Roman von der Schulleitung nie genehmigt bekommen hätte. Aber vielleicht war das mit ein Grund – ich habe mit der Klasse einen Pakt geschlossen, wir waren für die Dauer des Lesens eine verschworene Gemeinschaft. Wissen Sie, so ähnlich hatte ich mir das Lehrersein vor vielen Jahren einmal vorgestellt, ehe die Realität eintrat. Aber jetzt weiß ich ja, dank Ihnen, dass es auch noch andere Realitäten gibt!

Dem konnte Valerie nur beipflichten. Sven zum Beispiel hatte eine ganz andere Realität als sie. Und diese Wohnung hier hatte eine ganz andere als der Buchladen von Tante Charlotte.

Ein weiterer Brief war mit wunderschönen, geschwungenen Buchstaben geschrieben, in blassblauer Tinte:

Liebe Buchhändlerin,

wenn dieses Schreiben Sie erreicht, hoffe ich auf dem Dach der Welt zu stehen. Es soll die letzte Station einer großen Reise sein, auf die Sie mich geschickt haben, ohne es ahnen zu können. Obwohl ich mich so manche Nacht frage, ob Sie vielleicht sogar wussten, was Sie mir taten, indem Sie mir dieses Buch ans Herz legten, diese zauberhafte, unglaubliche, verwirrende Geschichte, die ganz unvermittelt zu meiner Geschichte wurde. So folge ich ihr seit fast einem Jahr, Kapitel für Kapitel, Station um Station und entdecke, wie mein Leben auch hätte sein können. Nein! Wie es wurde. Durch Sie, meine Liebe! Sie haben alles für mich verändert, denn Sie haben mir dieses Buch gegeben, das aus meinen Träumen Wirklichkeit machte und immer noch macht. Manchmal lese ich voraus, doch das Ende wage ich nicht zu erkunden. Manchmal blättere ich zurück und erkenne alles wieder. Aber jetzt ist nicht mehr viel übrig und ich weiß, dass ich bald in den Alltag zurückkehren werde, wo wir uns hoffentlich wiedersehen. Einen Alltag aber, so wie ich ihn früher kannte, wird es



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