Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989 by Richard von Weizsäcker

Drei Mal Stunde Null? 1949 - 1969 - 1989 by Richard von Weizsäcker

Autor:Richard von Weizsäcker [Weizsäcker, Richard von]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbücher, Bundesrepublik, Deutsche Geschichte, DDR, Geschichtswissenschaft, Politik & Geschichte, BRD
ISBN: 9783886807321
Google: aTZoAAAAMAAJ
Herausgeber: Siedler
veröffentlicht: 2014-12-07T05:00:00+00:00


Verhandlungsdemokratie

Aufs Ganze gesehen bewährt sich unsere Demokratie seit der Wende ähnlich wie zuvor in der alten Bundesrepublik. Dabei steht die wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht still. Es gilt, die Veränderungen zu verstehen und zu beherrschen. Auch haben wir es mit Schwächen, manchmal mit Skandalen zu tun. Kein politisches System kann sie uns ersparen. Sie aufzudecken, sie zu verarbeiten und Konsequenzen aus ihnen zu ziehen, darin hat die Demokratie ihre Überlegenheit zu erweisen.

Immer deutlicher verschieben sich die Kräfteverhältnisse unter den Verfassungsorganen. Davon ist vor allem das Parlament betroffen. Es fasst seine Beschlüsse mehrheitlich. Seine wichtigste, oft seine beinahe einzig wahrnehmbare Funktion besteht darin, den Regierungschef nicht nur zu wählen, sondern ihn abzuschirmen. Anstelle der Kontrolle der Exekutive durch die Legislative – wie in der klassischen Gewaltenteilung vorgesehen – tritt dann der mit Parlamentsmehrheit durchgesetzte Schutz der Regierung vor der kritischen parlamentarischen Kontrolle.

Auf kaum noch leisen Sohlen schreitet der beherrschende Einfluss der Regierungen in den meisten Demokratien voran. In Großbritannien mit seinem historisch-klassischen Parlamentsvorbild sorgt das Wahlsystem ziemlich regelmäßig für klare Mehrheiten. Diese wählen den Regierungschef und gewähren ihm eine fast uneingeschränkte Handlungsmacht. Mancher spricht dort schon von einem schleichenden Autoritarismus. Die Regierung sucht das wahre Volk auf der Straße, dagegen kaum im Unterhaus. Im Zeichen gewachsener Medienmacht versorgt sie ihr Volk mit friedlichen Werbefeldzügen. Die parlamentarische Sachdiskussion geht spürbar zurück.

Bei uns ist es schwerer zu regieren. Unser Wahlsystem erzwingt fast immer die Bildung von Parteikoalitionen, damit eine Mehrheit für die Kanzlerwahl erreicht werden kann. Hinzu kommt unser föderalistisches System. Es räumt den Landesregierungen mit ihren Verwaltungen die Möglichkeit ein, in Bundes- und Europaaufgaben unmittelbar mitzuwirken. Keine andere zur Europäischen Union gehörende Demokratie hat eine damit vergleichbare Verfassung.

Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass auch bei uns die Bundesregierung das politisch dominierende Verfassungsorgan geworden ist. Im Gegensatz zum amerikanischen Präsidialsystem hatte sich zwar das Bonner Grundgesetz für ein parlamentarisches System entschieden. Zugleich aber hatte es in Erinnerung an die massiven Schwächen der Weimarer Verfassung eine starke Exekutive installiert. Herausgekommen ist bis heute im Wesentlichen eine Kanzlerdemokratie im Parteienstaat.

Laut Verfassung arbeitet jeder Bundesminister »selbständig und unter eigener Verantwortung«. Meinungsverschiedenheiten sollen vom ganzen Kabinett entschieden werden. Dazu kommt es jedoch kaum. Denn es ist die Richtlinienkompetenz des Kanzlers, die sich in der Regel durchsetzt. Die Öffentlichkeit erfährt wenig von Debatten in der Regierung, dagegen umso mehr von der Beförderung eines Themas zur »Chefsache« und von »Machtworten« des Kanzlers – Begriffe, die der Verfassung fremd sind.

Drei Bedingungen sind es, von denen die Machtposition des Kanzlers abhängt. Die erste und wichtigste ist die Rückendeckung durch die eigene Partei, was in der Regel heißt, dass es sich für ihn empfiehlt, sie selbst anzuführen. Die zweite Bedingung ist die ständige Rücksichtnahme auf den oder die Koalitionspartner. Es sind die der Verfassung unbekannten Koalitionsrunden, in denen über Streitpunkte entschieden wird, und dort hat niemand eine Richtlinienkompetenz.

Die dritte Bedingung, deren Erfüllung den Kanzler stärkt, hat sich erst in den letzten Jahren sichtbar entwickelt: Wir nennen sie die Verhandlungsdemokratie. Sie ist es, die den Einfluss der Exekutive zu Lasten der Legislative immer weiter wachsen lässt.



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