Diesseits des Van-Allen-Gürtels by Wolfgang Herrndorf

Diesseits des Van-Allen-Gürtels by Wolfgang Herrndorf

Autor:Wolfgang Herrndorf [Herrndorf, Wolfgang]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644569317
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-09-25T16:00:00+00:00


Herrlich, diese Übersicht

Am Rand der Stadt geht es zwischen Roggenfeldern hindurch. Die Straße taucht in großen, frisch geteerten Bögen auf und ab, schließlich biegt das Taxi links ein. Hinter Kiefern und Strommasten stehen alte Einfamilienhäuser. Der Fahrer hält in der Mitte der Straße, und eine junge Frau in einem langen schwarzen Kleid steigt aus. Sie stellt einen Bilderrahmen auf die Straße, lehnt ihn gegen ihre Wade und streicht mit beiden Händen ihr Kleid von oben nach unten glatt. Über der Brust hat das Kleid ein kleines elliptisches Fenster, wie das Heckfenster eines alten VW Käfer. Es ist ein warmer Abend.

Sie bezahlt den Taxifahrer und geht leicht vorgebeugt, als wäre sie ein wenig kurzsichtig, auf zwei weiße Einfamilienhäuser zu, beide ohne Hausnummer. Sie entscheidet sich nach kurzem Zögern für das größere mit den herabgelassenen Jalousien. Ein Mann im beigen Cordanzug öffnet. Hinter ihm im Windfang stehen noch zwei weitere Männer mit kahlrasierten Schädeln, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Aus der Tiefe des Hauses kommt ein stampfender Bass.

«Wir kaufen nichts», sagt der Cordanzug. Er sieht bis auf die Füße der Frau hinunter, dann wieder hinauf bis zu dem elliptischen Fenster. Er ist offensichtlich betrunken.

«Hier wohnt Christine?», fragt die junge Frau.

«Wer?»

«Christine Bitsch.»

«Kenn ich nicht.»

«Wer wohnt hier?», ruft einer der beiden anderen.

Der Cordanzug zuckt die Achseln. «Bitsch», sagt er. Er steckt einen Finger seitlich in den Mund, wie um Essensreste zu entfernen, und starrt die junge Frau an. Sie drängt sich an den Männern vorbei in die Wohnung.

Auf der Treppe im Flur stehen Umzugskartons. An den Wänden hängen Bilder über rechteckigen Flecken von früheren Bildern. Durch eine angrenzende Tür ist Stimmengewirr zu hören. Die junge Frau betritt einen großen Raum, in dessen Mitte ein Buffet steht. Sie sieht sich mit zusammengekniffenen Augen um. Dreißig, vierzig Leute auf den ersten Blick.

«Lydia!», ruft jemand.

«Christine», sagt die junge Frau erleichtert. «Für dich.»

«Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Weißt du, was Franco gesagt hat?» Christine wirft einen flüchtigen Blick auf die gerahmte Zeichnung. «Das hätt’s doch nicht gebraucht.»

Sie umarmt Lydia, küsst sie links und rechts auf die Wangen, und Lydia sagt: «Ich hoffe, es sind nicht nur Leute aus der Firma da?»

«Ich dachte, ich mach euch alle mal bekannt.»

«Und dein neuer Freund?»

«Was ist mit dem?»

«Ja, weiß ich nicht?»

«Kommt noch», sagt Christine und geht um das Buffet herum. Sie hält das Bild mit beiden Händen hoch, dreht es kurz zur Ansicht, als sie an einer Gruppe von vier, fünf Leuten vorbeikommt, und stellt es zu den anderen Geschenken auf den Fußboden.

«Bier oder Wein?»

«Bier», sagt Lydia. «Hätt ich nicht gedacht, dass es so abseits ist. Wirklich auf’m Land.»

«Radeberger oder Beck’s?»

«Radeberger. Und du musst die Männer an der Rampe mal auswechseln lassen. Ich wär fast nicht reingekommen.»

«So, wie du aussiehst?» Christine schaut zur Tür. «Das sind Freunde von Henri, glaub ich, der Friedrichshainer Mob. Einer von denen macht die ZIA, der mit der Glatze.»

«Das sind alles Glatzen.»

Christine öffnet mit dem Feuerzeug eine Bierflasche, drückt mit der Hüfte eine Geschirrschublade zu und übergibt Lydia die Flasche. Dann legt sie einen Arm um Lydias Schulter und zieht sie zu einer Gruppe von Leuten.



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