Die Unwerten by Volker Dützer

Die Unwerten by Volker Dützer

Autor:Volker Dützer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Gmeiner-Verlag
veröffentlicht: 2020-01-07T00:00:00+00:00


22

Claudius Brendel schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Abendsonne, die tief über dem Horizont stand und die Hänge der Weinberge mit goldenem Licht übergoss. Am 6. August 1941 saß er auf einer Bank unter der Kastanie unweit des Friedhofs. Seit den Tagen seiner Jugend war dieser Ort sein Lieblingsplatz, an den er gerne zurückkehrte. Die Stille und Friedfertigkeit hatten ihn stets mit Glück erfüllt.

Seit fünf Tagen fesselte eine leichte Sommergrippe den alten Klee ans Bett. Claudius übernahm dessen Pflichten, so gut er es vermochte. An den langen Sommerabenden besuchte er den mächtigen Baum wie einen alten Freund. Doch die Ruhe und Zufriedenheit, die er mit dem Platz verband, wollten sich diesmal nicht einstellen. Stattdessen plagte ihn eine nervöse Unruhe, die er zunächst auf die arbeitsamen Tage und später auf die Erinnerungen an die Gestapohaft schob, die ihn fast jede Nacht quälten. Die Albträume waren jedoch nicht der Grund für seine Rastlosigkeit. Tief in seinem Herzen wusste er, woran er litt: an einer Erkenntnis, die er nicht wahrhaben wollte, die sich aber nicht länger verdrängen ließ. Er war nicht bereit, sich der Wahrheit zu stellen, denn dann würde er seinen letzten Halt verlieren und sein altes Leben aufgeben müssen.

Vor vielen Jahren hatte Klee ihn auf dieser Bank behutsam mit dem christlichen Glaubensbekenntnis vertraut gemacht und in ihm den Wunsch geweckt, Priester zu werden. Als Kind hatte er geglaubt, Gott wohne in der alten Kastanie. Nun war dieser Gott fort. Er hatte sich als kindliches Trugbild erwiesen. Als er ihn am meisten gebraucht hatte, im Verhörraum der Gestapo, war er stumm geblieben.

Der alte Klee spürte, was in Claudius vorging, aber sie hatten nicht darüber geredet. Vielleicht würde die Zeit ihm Gott wieder näher bringen, andernfalls hatte er sein bisheriges Leben vergeudet.

Joschi hatte sich nicht gemeldet. Zwar hatte er ihm eine Telefonnummer hinterlassen, falls er seine Meinung ändern sollte, aber Claudius begann zu zittern, wenn er den Zettel berührte, der in seiner Nachttischschublade lag. Bilder der Haft tauchten auf, die Todesangst, die Misshandlungen und die furchtbaren Schmerzen. Selbst Jesus hatte im Garten Gethsemane gebeten, verschont zu werden. Wie konnte er, Claudius Brendel, sich anmaßen, stärker als Christus zu sein? Und doch quälte sein Entschluss ihn Tag und Nacht. Seine Weigerung, Joschi zu unterstützen und sich damit der Gefahr einer erneuten Verhaftung auszusetzen, fraß an seinem Herzen und vergiftete seine Seele mehr als sein verloren gegangener Glaube. Es war nicht nur seine Pflicht, sondern sein ganzer Lebensinhalt, Menschen in Not zu helfen. Aber er war dazu nicht mehr in der Lage, denn die verfluchte Angst lähmte ihn.

»Hallo.«

Er sah auf, blinzelte in die Sonne und beschattete die Augen mit der Hand.

»Hannah«, sagte er überrascht.

»Sie schauen mich an und sehen mich doch nicht«, erwiderte sie lachend.

»Entschuldigung, ich … war in Gedanken. Der alte Pfarrer ist krank, ich muss an tausend Dinge denken.«

Er betrachtete sie genauer. Die Wangen des Mädchens waren gerötet, es atmete heftig, als wäre es gerannt.

»Ist etwas passiert? Was führt dich hierher?«

»Sie sagten, ich könne wiederkommen.«

Hannah sah ihn mit ihren großen braunen Augen an.



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