Die Treppe zum Himmel by Beatrice Colin

Die Treppe zum Himmel by Beatrice Colin

Autor:Beatrice Colin [Colin, Beatrice]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: hist. Roman
Herausgeber: Bastei Lübbe AG
veröffentlicht: 2016-10-30T23:00:00+00:00


Kapitel 19

Cait saß mit einem aufgeschlagenen Buch im Schoß neben dem Kamin. Sie hatte sich einen dünnen Band mit Gedichten von Shelley gekauft, einen Roman von Flaubert auf Französisch und bei Galignani, der englischen Buchhandlung in Paris, ein philosophisches Werk von John Stuart Mill. Obwohl ihre Augen von links nach rechts über Flauberts Prosa wanderten, nahm sie kein einziges Wort auf. Es waren nicht ihre Französischkenntnisse, die ihr abhandengekommen waren, sondern ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Sie fing noch einmal von vorn an.

Alice saß ihr gegenüber am Kamin und starrte in den Regen hinaus, einen Regen, der die Bäume zu Skeletten machte, indem er sie ihrer letzten Blätter beraubte. Hin und wieder tupfte sie sich mit einem Baumwolltaschentuch die Nase.

»Warum spielen Sie nicht Klavier?«, schlug Cait vor.

Sie schüttelte ablehnend den Kopf.

»Oder lesen ein bisschen? Wie wäre es mit einer Tasse Tee? Es muss bald vier Uhr sein.«

Alice seufzte.

Cait vertiefte sich wieder in ihren Roman. Sie hatte Alice jedes einzelne Buch angeboten, das sie besaß, aber das Mädchen interessierte sich nur für Modejournale.

»Mein Onkel hat keine Ahnung«, sagte Alice unvermittelt. »Von Frankreich. Ich weiß nicht, warum er vorgeschlagen hat, dass ich mitfahren soll.«

Sie blinzelte und legte den Kopf zur Seite. Um ihre Mundwinkel zuckte es leicht, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern, das Feuer im Kamin loderte hell auf, und die Kerze auf dem Kaminsims flackerte gelblich.

»Hört das denn nie auf?«, sagte Alice.

Der Regen fiel unablässig, ein stetiger Guss, der die Oberfläche des Zierteichs in eine trübe, milchige Fläche verwandelte. Cait fühlte eine schwere Last in ihrer Brust. Was wäre geschehen, wenn sie William Arrol nichts von Sinclairs Heiratsantrag erzählt hätte? Wo wäre Alice in diesem speziellen Augenblick gewesen?

»Soll ich Ihnen etwas vorlesen … ein Gedicht vielleicht?«, schlug sie vor. »Etwas von Shelley?«

Alice zuckte die Achseln.

»She left me at the silent time«, las Cait.

»When the moon had ceas’d to climb …

The azure path of Heaven’s steep,

And like an albatross asleep,

Balanc’d on her wings of light,

Hover’d in the purple night,

Ere she sought her ocean nest

In the chambers of the West.

She left me, and I stay’d alone

Thinking over every tone

Which, though silent to the ear,

The enchanted heart could hear,

Like notes which die when born, but still

Haunt the echoes of the hill …«

»Aufhören!«, rief Alice. »Das halte ich nicht aus. Es ist schrecklich deprimierend.«

»Es ist ein Liebesgedicht.«

»Für wen?«

»Für Jane Williams. Aber er konnte sie nicht haben, sie war schon verheiratet.«

»Gehen alle Liebesgeschichten schlecht aus?«

»Alice …«

»Bei meinen ist es nämlich so«, sagte sie und stürzte aus dem Zimmer.

Cait lauschte ihren Schritten, die die Treppe hinaufstürmten. In der Ferne wurde eine Tür zugeschlagen.

Wenig später wurde ein Brief, feucht vom Regen, gebracht. Monsieur Nouguier erbat für den folgenden Sonntag die Ehre ihrer Gesellschaft. Sie starrte die Worte an, die er geschrieben hatte. Das musste aufhören. Es war nicht fair. Nicht Émile, nicht Alice, nicht William Arrol gegenüber. Sie konnte Émiles Annäherungsversuche, so diskret sie auch scheinen mochten, nicht länger ignorieren. Mehr noch, sie hatte Angst – Angst, sie könnte in Versuchung kommen, darauf einzugehen.



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