Die Söhne der Wölfin by Kinkel Tanja

Die Söhne der Wölfin by Kinkel Tanja

Autor:Kinkel, Tanja
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: PeP eBook


Alba, die Weiße, das von Unbill geschüttelte und wieder zu neuem Glanz erblühte Alba, lag wie eine Perle in der Auster eingebettet an der windgeschütztesten Stelle des hohen Hügels, von der aus man weit über den See hinweg bis ins Umland blicken konnte. Für Ulsna wäre die Stadt früher, als er noch mit seinem Meister durch die Lande gezogen war, überwältigend gewesen. Inzwischen hatte er mit Ilian in dem Tempel Amon-Res zu Karnak gestanden, wo ein Mensch kaum den Fuß einer Säule überragte, wo es unfaßlich schien, daß andere Menschen und nicht Götter die Pfeiler, die in die Ewigkeit ragten, errichtet hatten. Der Tempel Turans, der Schutzgöttin von Alba, hätte in eine seiner Vorhallen gepaßt; der Palast, der etwas tiefer lag und sich etwas breiter über drei Gebäude hin erstreckte, kam höchstens dem Anbau gleich, den der nubische Pharao Taharqa hatte errichten lassen. Dennoch verbrachte Ulsna lange Zeit vor den Gebäuden. Er wußte, welche Rolle sie in Ilians Leben spielten.

Seltsam, dachte er. Sie durchquert Meere und Länder, sieht Zeichen und Wunder und ist bereit, selbst mit den Göttern zu handeln - und das alles, um eines Tages hierher zurückkehren zu können. In diese Stadt, aus der man sie vertrieben hat, in den Tempel und in den Palast.

Er selbst hielt sich von beiden fern und verzichtete auch wohlweislich auf jedes Lied über eine verbannte Königstochter und ihren halbgöttlichen Sohn, als er seine Kunst in Schenken und in den Häusern der Edlen darbot. Dafür hörte er genau zu. Es war dies keineswegs ein Opfer; er genoß es, nach all den Jahren in der Fremde in einen Klangteppich eingehüllt zu werden, der nur aus Lauten seiner eigenen Sprache gesponnen war. Je mehr er reiste, desto mehr kam er zu der Überzeugung, daß jedes Volk seine eigene Gestalt hatte, die man selbst als Blinder hören, riechen und schmecken konnte. Für die Griechen waren es die kurzen, knappen Sätze, mit denen gehandelt wurde, hell und klar wie das Klappern von Hufen auf Felsgestein, und die langen, gerollten Verse ihrer Lieder, mit denen sich für ihn das Rauschen von Meereswogen und das Salz der See verbanden. Bei den Ägyptern war es die feuchte Schwüle des Deltas, in der Sätze wie die Luftblasen von Nilpferden oder Krokodilen an die Oberfläche drangen und plötzlich zerstoben, der heiße, trockene Wüstenwind, der den Sand mit einem Pfeifen vor sich herjagte, das Zischen von Stimmen wie Peitschen, der Geschmack von Honig und Blut.

Die Rasna entdeckte er jetzt wieder neu, und zwar ohne die Furcht, die ihn seine ganze Kindheit hindurch geplagt hatte. Er hörte die Mütter, die ihre kleinen Kinder lehrten, die Flöte zu spielen, das Instrument, das jeder Rasna beherrschte, und ihnen beibrachten, zu tanzen und zu singen. »Nur Menschen singen, nur Menschen tanzen, nur Menschen lachen«, hieß das Sprichwort. Er hörte die Klagen der Väter, die sich in allen Städten der Rasna darüber beschwerten, daß ihr König zuviel Tribut von ihnen verlangte. Er hörte die Seufzer von Liebenden in den Gassen, und er hörte das Grollen von alten Kriegern, die sich über die mangelnde Achtung der Jugend beschwerten.



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