Die Seuche by Hartmann Lukas

Die Seuche by Hartmann Lukas

Autor:Hartmann, Lukas [Hartmann, Lukas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60018-6
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-05-23T16:00:00+00:00


[120] Von der Anhöhe aus, die sie am frühen Nachmittag erreichten, sah Hanna zum ersten Mal die Stadt: Mauern, Wehrgänge, Türme; die ansteigenden Gassen, als habe man sie in die Häusermasse gehauen. Licht und Schatten hoben die größern Gebäude hervor; der Fluss glänzte so stark, dass er das durchsichtige Grün der Rebhänge, die zu ihm abfielen, auszulaugen schien.

Langsam bewegte sich der Zug den Stalden hinunter; die Männer ordneten sich wieder zu Paaren, ihr Gesang wurde lauter und dringlicher. Die Stadt schwamm Hanna entgegen, ihr wurde wieder schwindlig, sie pflückte eine Schafgarbe, roch daran. Trage Schafgarbe mit dir, das schützt dich vor bösem Einfluss; süßlich riecht sie, würzig, der Stengel kitzelt die Hände. Koch einen Teil Schafgarbe mit zwei Teilen Farn, der Trank nimmt dir das Bauchweh. Großmutter, so nah dürfen Dächer einander nicht kommen, zaubere mich zurück in unser Dorf. NUN HEBET AUF EURE HÄNDE, ich suche für dich das Tausendgüldenkraut, die Mariendistel, [121] DASS GOTT DIES GROSSE STERBEN WENDE, ich kenne die Plätze, ich weiß, wo wir die süßesten Erdbeeren finden, NUN HEBET AUF EURE ARME, wir zerdrücken die Erdbeeren in der Milch, davon bekomme ich nie genug, DASS GOTT SICH ÜBER UNS ERBARME, Großmutter, wie kannst du tot sein, wenn ich dich jede Nacht sehe, wenn deine Hände mich jede Nacht streicheln?

Hanna ging wie im Traum, die Hinkende zog sie am Ärmel und zeigte auf die Reiter, die ihnen von der Brücke her entgegensprengten. Sie beschrieben, hangaufwärts, einen großen Bogen, bevor sie den Geißlern den Weg abschnitten. Die Vordersten hielten an, der Gesang brach ab, vor den Reitern staute sich eine schweigende Menge. Die Reiter trugen Helme und Kettenhemden, sie hatten die Hände am Knauf ihrer Schwerter. Der Meister begann mit ihrem Anführer zu verhandeln. Als die Geißler ungeduldig wurden und Einzelne vorwärtsdrängten, rückten die Reiter noch näher zusammen, verschmolzen, die Sonne hinter sich, zu einem dunklen, lebendigen Wall. Die Verhandlung dauerte lange, doch plötzlich wendeten die Reiter ihre Pferde und galoppierten, einer hinter dem andern, hinunter zum Fluss, donnerten über die hölzerne Brücke und durchs Tor, das sich für sie öffnete.

[122] Der Meister sprach ein Bittgebet; das Amen pflanzte sich nach hinten fort bis zu den Frauen, nur Hanna blieb stumm. Der Meister schien eine Zeitlang in sich hineinzuhorchen, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch.

Sie kamen zur Brücke, doch das Tor war geschlossen, im Wehrgang über dem Bogen standen Wächter und hatten ihre Armbrüste auf die Geißler angelegt. Die Befestigungsmauern am andern Ufer verwehrten jetzt, da sie auf gleicher Höhe waren, den Blick in die Gassen, aber Leute schienen hinter dem Tor zusammenzulaufen, Stimmengewirr drang über den Fluss. Hanna sah aufs Wasser, folgte mit dem Blick den Stämmen, die vorübertrieben, so nah waren sie, dass sie das Brandzeichen erkannte, immer das gleiche, ein Dreieck in einem Kreis. Drüben, wo flussaufwärts, der Mauer vorgelagert, ein Wiesenstreifen begann, waren Fischerboote vertäut, die schaukelnd dem Reißen des Wassers widerstanden.

Lange geschah nichts, Wolkenschatten glitten über den Fluss und die Dächer. Hanna flocht zum Zeitvertreib aus Gänseblümchen einen Kranz und setzte ihn dem Kind aufs Haar.



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