Die Schnapsstadt by Mo Yan

Die Schnapsstadt by Mo Yan

Autor:Mo Yan [Yan, Mo]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3-498-04387-0
veröffentlicht: 2013-11-16T16:00:00+00:00


SECHSTES KAPITEL

I

Ding Gou’er spürte, wie sich die vergoldeten Tore der Hölle mit lautem Knarren öffneten. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass die Hölle nicht der dunkle und schattige Ort war, von dem die Mythologie erzählt. Im Gegenteil: Es war ein blendend heller Ort, den die roten Strahlen der Sonne und die blauen Strahlen des Mondes zugleich überfluteten. Schwärme bunt gestreifter Geschöpfe des Meeres mit weichen biegsamen Gliedern und harten Panzern kreisten um seinen Körper, der ziellos mit dem Wasser trieb. Er spürte, wie ein spitzmäuliger vielfarbiger Fisch an seinem Hintern knabberte und mit dem chirurgischen Geschick eines professionellen Proktologen seine Hämorrhoiden entfernte. Der Schmetterling seines Bewusstseins kehrte in den Körper zurück, von dem er so lang getrennt gewesen war, und kühlte den erhitzten Geist. Der Sonderermittler, der die ganze Zeit betrunken gewesen war, öffnete die Augen: Neben ihm saß, so nackt, wie sie zur Welt gekommen war, die Lastwagenfahrerin und trug mit dem Schwamm, mit dem sie sonst ihr Fahrzeug reinigte, eine säuerlich riechende Flüssigkeit auf ihren Körper auf. Wie er bald bemerkte, lag auch er splitternackt auf dem glänzend polierten Teakholzboden. Bilder aus der jüngsten Vergangenheit wurden wach. Er versuchte aufzustehen, aber er schaffte es nicht. Die Lastwagenfahrerin rieb sich sorgfältig und gründlich die Brüste ein. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrer Aufgabe, als sei sie so allein auf der Welt wie eine junge Mutter, die ihrem Säugling die Brust gibt. Unendlich langsam stiegen ihr Tränen in die Augen, bildeten zwei dünne Fäden, rollten über ihre Wangen und fielen genau auf ihre purpurfarbenen Brustwarzen. Ein göttliches Gefühl regte sich in der Brust des Ermittlers. Gerade wollte er etwas sagen, da warf sich die Lastwagenfahrerin über ihn und verschloss seinen Mund mit dem ihren. Wieder spürte er die Fische, die ihn in der Luft umschwärmten. Diesmal konnte er sie riechen. Er fühlte, wie der Alkohol, mit dem sein Körper gesättigt war, auch den Körper der Frau durchdrang. Dann wachte er auf. Mit einem unheimlichen Schrei sank sie in sich zusammen.

Mit schwimmendem Kopf und wackligen Beinen stand der Ermittler auf und stützte sich mit der Hand gegen die Wand, um nicht gleich wieder umzufallen. Noch nie hatte er sich so lahm und schlapp gefühlt. Sein Inneres war von einer einzigen gigantischen Leere erfüllt. Er bestand nur noch aus Haut ohne Knochen. Vom Körper der Lastwagenfahrerin stieg Dunst auf wie von einem frisch gekochten Fisch. Der Dunst verzog sich und wich kaltem Schweiß, der aus ihren Poren drang und auf den Holzboden tropfte. In ihrer Ohnmacht war sie Mitleid erregend. Mitleid wächst im Herzen wie ein giftiges Unkraut. Dennoch konnte der Ermittler die finstere und verschlagene Seite der Frau nicht vergessen. Am liebsten hätte Ding Gou’er wie ein wildes Tier seine Blase über ihr entleert. Doch er verdrängte diesen abartigen Gedanken schnell. Sein heiliger Auftrag und Jin Gangzuan fielen ihm wieder ein, und von stählerner Entschlossenheit erfüllt, biss er die Zähne zusammen. Verschwinde! Dass ich mit deiner Frau ins Bett gegangen bin, war moralisch gesehen ein Vergehen, aber Kinder zu braten und zu essen ist ein wahrhaft abscheuliches Verbrechen.



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