Die Scherenfrau by Franco Jorge

Die Scherenfrau by Franco Jorge

Autor:Franco, Jorge [Jorge, Franco]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Unionsverlag - metro
veröffentlicht: 2013-08-12T16:00:00+00:00


10

Medelín liegt eingeschlossen zwischen zwei Bergkämmen. Eine topografische Umarmung, die alle am gleichen Ort festhält. Stets träumt man von dem, was hinter den Bergen liegen mag, obwohl es uns schwer fällt, uns von diesem Loch loszureißen. Es ist eine Hassliebe, mit Gefühlen, die denen für eine Frau gleichen. Medellín ist wie eine altmodische Matrone mit zahlreichen Kindern, eine Betschwester, fromm und besitzergreifend, aber auch eine verführerische Mutter, eine Hure, üppig und strahlend. Wer sie verlässt, kehrt wieder zurück, wer abtrünnig wird, widerruft, wer sie beschimpft, entschuldigt sich, und wer sie angreift, bezahlt dafür. Etwas sehr Seltsames geschieht uns mit ihr, denn abgesehen von der Angst, die sie uns einflößt, und der Lust abzuhauen, die jeder einmal hat, und abgesehen davon, dass wir sie schon oft getötet haben, ist Medelín am Ende immer die Siegerin.

»Wir sollten von hier weggehen, Kumpel«, sagte Rosario eines Tages weinend zu mir. »Du, Emilio und ich.«

»Und wohin?«, fragte ich sie.

»Irgendwohin«, sagte sie. »Scheißegal wo.«

Sie weinte, weil die Situation etwas anderes nicht mehr zuließ. Wir drei hatten uns seit einer Weile in dem Häuschen eingeschlossen, wobei wir uns alles reinpfiffen, was man sich reinpfeifen konnte und was wir in die Finger kriegten. Emilio verschlief die Nebenwirkungen der Dröhnungen. Rosario und ich weinten in der Morgendämmerung.

»Diese Stadt bringt uns noch um«, sagte sie.

»Gib nicht ihr die Schuld«, sagte ich. »Wir sind es, die sie umbringen.«

»Dann rächt sie sich eben, Kumpel«, sagte sie.

Rosario war nach einem Wochenende mit den Oberharten ziemlich verstört zurückgekommen und hatte uns gebeten, für ein paar Tage aus der Stadt zu verschwinden. Sie erzählte uns nicht, was passiert war, nicht einmal später, nicht einmal mir. Aber weil ihr Wunsch Befehl war, taten wir ihr den Gefallen und fuhren mit ihr zu dem Häuschen. Auf dem Weg dachte ich, dass Rosarios Jähzorn nichts Neues war. Sie gebärdete sich schon lange so, und obwohl sie Drogen nur ab und zu nahm – »in Gesellschaft«, wie man so sagte –, verband ich ihren Zustand mit einem steigenden Konsum. Ich hatte mich ein wenig distanziert, wie ich es manchmal tat, denn diesmal schien ihre Beziehung zu Emilio auf einem dieser Höhepunkte zu sein, die sich in heftigem Feiern und häufigem Sex entluden. Deshalb zog ich mich lieber ein wenig zurück. Doch war es genau diese Euphorie, die sie in Zustände voll Zorn und Anspannung stürzte, die uns so weit auseinander brachten, dass ich ein paar Monate nichts mehr von ihnen hörte. Bis mich eines Nachts Emilio anrief und mich bat, ihm in Rosarios Apartment Gesellschaft zu leisten.

»Sie ist bei ihnen«, sagte er als Erstes, doch schien es ihm nichts auszumachen. Er wirkte abwesend. Wenn er redete, sah man, dass er an etwas anderes dachte, sofern er überhaupt denken konnte.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben«, sagte er, rückte aber nicht damit heraus. Ich merkte, dass er viel von Rosario übernommen hatte. Seine Geheimnistuerei, das Gespür für Gefahr, sein Bedürfnis nach meiner Zuneigung.

»Lass mich nicht allein, Alter«, flehte er mich an. »Bleib hier, bis sie zurück ist.«

Ich blieb nur ungern.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.