Die Kette by Wolfgang Kaes

Die Kette by Wolfgang Kaes

Autor:Wolfgang Kaes [Kaes, Wolfgang]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt
veröffentlicht: 2021-07-06T16:00:00+00:00


Sie war der Typ Frau, mit dem Josef Morian schon immer auf Kriegsfuß gestanden hatte, solange er sich entsinnen konnte. Die Mode änderte sich, die Haarfarbe, die Modeberufe – aber der Typ Frau, mit dem Morian auf Kriegsfuß stand, blieb immer gleich. Es gab auch einen speziellen Typ Mann, aber dieser war in dem Reisebüro, das er soeben betreten hatte, zufällig nicht vorhanden. Es war überhaupt kein Mann vorhanden. Es gab drei Schalter. Hinter jedem Schalter saß eine Mitarbeiterin des Reisebüros. Vor dem linken und vor dem rechten Schalter hatte zudem jeweils eine Kundin Platz genommen und ließ sich beraten.

Der mittlere Schalter war frei. Morian setzte sich also auf den freien Stuhl. Die Frau, mit der er augenblicklich auf Kriegsfuß stand, bevor er auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte, beachtete ihn nicht, sondern starrte schweigend in ihren Computerbildschirm. In Abständen von etwa zwei Minuten klimperte sie mit ihren aufgeklebten fliederfarbenen Fingernägeln auf der Tastatur herum. Morian registrierte zu seinem Erstaunen, dass auf den Nägeln der beiden kleinen Finger winzige Strasssteine glitzerten. Das fiel besonders auf, weil sie die kleinen Finger beim Tippen geziert abspreizte. Sie schrieb nämlich nicht mit zehn Fingern, sondern nur mit den beiden Zeigefingern. Die Farbe der Nägel war perfekt abgestimmt auf die Farbe ihres Lippenstiftes sowie die Farbe ihres asymmetrisch ausgeschnittenen Tops, das die linke Schulter frei ließ. Alles fliederfarben. Morian betrachtete das hervortretende knöcherne, tief gebräunte Schlüsselbein, das ihn, vermutlich weil er noch nicht gefrühstückt hatte, unweigerlich an zu lange gegrillte Hähnchenschenkel erinnerte und ihn zu der Vermutung veranlasste, dass die Frau dank ausgefeilter Hungerdiät gut und gerne zehn Kilogramm unter Normalgewicht auf die Waage brachte. Da sie immer noch keinen Blickkontakt mit dem neuen Kunden aufgenommen hatte, besah sich Morian noch in Ruhe ihre Hochsteckfrisur mit der goldfarbenen Spange, die wiederum farblich perfekt auf die acht goldenen Ringe abgestimmt war, die sie trug, bevor er schließlich das Wort an sie richtete:

«Guten Morgen. Ich würde gerne …»

«Moment bitte!»

Sie sprang auf. Tack, tack, tack, tack, tack. Ihre Pfennigabsätze war ebenso waffenscheinpflichtig wie ihre langen Fingernägel, und die Schühchen unter der schwarzen Hose aus zart fließender Viskose waren natürlich fliederfarben. Sie blieb vor einem Regal stehen, entnahm ihm einen Prospekt, kehrte an ihren Platz zurück, warf den Prospekt auf die Tischplatte, ließ sich mit elegantem Hüftschwung auf den Bürostuhl fallen, schlug hektisch eine Seite auf und tippte wieder in ihren Computer.

Morian sah auf die Uhr. In einer halben Stunde war er mit Dr. Ernst Friedrich in der Bonner Gerichtsmedizin verabredet. Der Doc hatte zwar gemault, ob das nicht Zeit hätte bis Montag, aber Morian hatte die Frage mit nein beantwortet.

«Ja bitte?»

Sie sah ihn an. Sie sah ihn tatsächlich an. Morian tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. «Meinen Sie mich?»

«Ja natürlich.» Das «Wen denn sonst?» lag ihr auf der Zunge, aber sie verschluckte es. «Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Indem Sie mich so schnell wie möglich und so billig wie möglich nach Fuerteventura bringen.»

Sie lachte auf. In ihren ummalten Augen lag Spott. «Da müsste ich erst einmal wissen, was für eine Art Urlaub Sie machen möchten.



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