Die Inkommensurablen by Raphaela Edelbauer

Die Inkommensurablen by Raphaela Edelbauer

Autor:Raphaela Edelbauer
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erster Weltkrieg, Wien, Kriegsausbruch 1914, Augusterlebnis, Psychoanalyse, Traum, Psyche, Wissenschaft, Wiener Kreis, Positivismus, Kriegsbegeisterung, Jugend, Europa, Habsburger, Moderne
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2022-11-25T00:00:00+00:00


Kapitel 5

Drei Archetypen

Leise und verwaschen war der Tag, an dem der Vikar in die Siedlung kam. Es regnete, und ein Sonntag war es – der 18. Juni 1910. Schwer standen die Blätter vom Wasser und dem Tau der Nacht, wie unter einer Liebkosung des Himmels, der von der Trockenheit der letzten Wochen besorgt gewesen war.

Nie zuvor war ein Gespann – eine wirkliche Postkutsche – ins Dorf gekommen. Nur deswegen hatte Hans gegen acht von der Arbeit im Stall abgelassen und war nach draußen gelaufen. Wenn er jetzt daran dachte, war ihm, als wäre ihm schon in dieser Stunde etwas ganz Außergewöhnliches widerfahren: Er sah noch vor sich, wie die Hinterseite dieser Karosse an der Kreuzung verschwunden war und er etwas Besonderes kommen spürte. Er sah sich in seiner Erinnerung unter einem Baum ins Gras sinken. Er hatte – glaubte er – an diesem Tag mit nie empfundener Zärtlichkeit die zögerlich aufbrechenden Knospen und die aus dem Boden hervorlugenden Wurzeln betrachtet. Auf einmal hatte er sich vorstellen können, wie tief die Pflanzen die Erde anfassten – und dass ihre Vorfahren für Äonen in einer reichen Sprache die Natur geformt hatten.

Wenn er es jedoch ganz nüchtern betrachtete, dann wusste er auch, dass es damals nicht so gewesen war. Nein: Was später geschehen war, hatte bloß einen Schlagschatten in sein Erinnern geworfen. In Wirklichkeit hatte er einfach dagesessen und an einer Wursthaut gekaut, weil er frustriert war, die vorbeifahrende Kutsche verpasst zu haben. Er war nicht mehr in den Stall zurückgekehrt, man hatte ihn zum Gottesdienst gerufen. Keine Poesie.

Das Dorf war im Grunde nur eine Lehmstraße, an der zehn Höfe, ein Gasthaus und eine Kirche aneinandergereiht waren.

Der Pfarrer, ein Mann namens Elias Meier, der selbst ein Sohn dieser trostlosen Geraden war, sprach von Sünde und Verdammnis so fade wie andere von Käseaufschnitt und Misthaufen. Auch an diesem Morgen hatte er sich um neun Uhr am Altar bereit gemacht. Hans war das egal gewesen – er ließ seine Gedanken schweifen, und sie schweiften für gewöhnlich zu seinem Ärger darüber, wie sich die Bauersleute in ihrer Sonntagskluft von den Knechten abzusetzen versuchten. In Reih und Glied saßen er und die vier anderen hinter der Familie da – er und die Mägde in groben, mehrfach geflickten Wollkleidern, die Bauernsöhne in feinen Wollanzügen, geschmückt mit Auerhahnfedern.

Um seinen Missmut zu verstecken, blätterte Hans oft im Gotteslob oder den zerfaserten Bibelbündeln nach Zeilen, die zu ihm sprachen und die er während der sinnlosen Riten auswendig lernen konnte. Doch bis auf wenige Stellen im Johannesevangelium und der Apokalypse fand er nur in der Zahlenakrobatik Unterhaltung. Dass Jakob und Esau bei Isaaks Tod 120 Jahre alte Knaben gewesen waren, vermochte ihn zwei Wochen zu amüsieren.

So begann auch der heutige Gottesdienst: In der gewohnt knöchernen Art, die stets von Adam und Eva her ihren Anfang zu nehmen schien, hatte sich Pfarrer Meier auf den Ambo gestützt. Statt aber das Schuldgeständnis einzuleiten, hatte er einen jungen Mann zu sich hinter den Altar gebeten und verkündet, eben dieser – ein Vikar aus Innsbruck – werde ihn von nun an jede zweite Woche vertreten.



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