Die Heimkehrer: Roman (German Edition) by Guillou Jan

Die Heimkehrer: Roman (German Edition) by Guillou Jan

Autor:Guillou, Jan [Guillou, Jan]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2014-10-26T23:00:00+00:00


VI – Berlin

1928

Sie träumte, bewusstlos zu sein, was ein seltsames Erlebnis war, weil sie sich bewusst war, dass es sich um einen Traum handelte. In ihrem Kopf herrschte keine Ordnung, Bilder wirbelten ohne ein erkennbares Muster oder eine erkennbare Logik durcheinander.

Sie stand an einem Rednerpult und hielt einen ihrer gewohnten Vorträge, und wie auch sonst waren alle Plätze besetzt.

Die Zuhörerschaft bestand aus Arbeiterfrauen, die in der Nähe wohnten. Es war eine sehr friedliche Versammlung, wie üblich, denn Fragen des Zusammenlebens eigneten sich nicht für lautstarke Agitation.

Etwas war geschehen, etwas Entsetzliches. Widerliche Lieder.

Oscars Gesicht nahe an ihrem. Er hielt einen Waschlappen in der Hand, vielleicht schon zum hundertsten Mal. Kaltes Wasser im Gesicht.

Oder war das Dr. Döblin? Nein, Alfred, die anderen nannten ihn Dr. Döblin, aber für sie war er einfach Alfred.

Sie stand am Rednerpult, und alles war wie immer. Nein, überhaupt nicht. Etwas geschah, dieses Lied, Knüppel und Eisenstangen, braune Uniformen.

Die Straße frei den braunen Bataillonen, die Straße frei dem Sturmabteilungsmann! Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen.

Sie strömten in zwei Reihen rechts und links am Publikum vorbei auf sie zu. Vielleicht hatten sie ja auch erst anschließend gesungen.

Wieder war da Oscars Gesicht. Nein, sie sah es nicht wirklich, sie spürte nur seine Nähe, hörte seine Stimme, spürte den kalten Waschlappen.

Dann neue Träume. Später. Ein ganz anderer Tag. Oder war es Nacht?

Sie war wach, konnte aber nicht sehen, wer bei ihr saß. Sie versuchte etwas zu sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Träumte sie, blind und stumm zu sein?

»Du hast noch Glück gehabt«, sagte Alfred. »Ich weiß, dass du mich hören kannst, drück meine Hand, einmal für Ja, zweimal für Nein.«

Sie drückte einmal. Das war kein Traum mehr. Der Schmerz im Gesicht und in einem Arm war zu deutlich zu spüren.

»Die Diagnose ist einfach«, sagte Alfred. »Du hast eine schwere Gehirnerschütterung erlitten und warst zwei Tage bewusstlos. Aber die Gefahr ist vorüber. Du wirst dich erholen. Verstehst du, was ich sage?«

Sie drückte einmal.

»Erinnerst du dich, was passiert ist?«

Sie drückte zweimal.

»Dein Vortrag wurde von SA-Schlägern unterbrochen. Sie waren mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet und haben so viele Leute wie möglich misshandelt, hatten es aber vor allem auf dich abgesehen. Viele Frauen aus dem Publikum haben dir geholfen und dafür Prügel bezogen, und nur deswegen hast du überlebt. Leider hatten nicht alle solches Glück. Willst du schlafen, oder soll ich noch mehr erzählen? Entschuldige, es funktioniert natürlich nur eine Frage nach der anderen. Willst du schlafen?«

Sie antwortete mit einem zweifachen Händedruck.

»Soll ich mehr erzählen?«

Ein Händedruck.

»Ausgezeichnet. Ich werde dir deine Verletzungen beschreiben. Dein rechter Oberarm ist gebrochen, das tut möglicherweise weh, ist aber nichts, was dich beunruhigen muss. Dein Gesicht hat einige Platzwunden abgekriegt, die ich, so gut es ging, genäht habe. Ob Narben zurückbleiben, lässt sich noch nicht absehen. Wegen der Schwellungen hast du einen Verband vor beiden Augen, den wir gelegentlich mit Wasser kühlen. Die Zunge ist genäht. Vermutlich fühlt sich das unbehaglich an, aber das ist nicht bedrohlich. In ein paar Tagen wird die Schwellung zurückgegangen sein, und ich kann die Fäden ziehen.



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