Die Geschichte von Blue (German Edition) by de Winter Solomonica
Autor:de Winter, Solomonica [de Winter, Solomonica]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257604450
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2014-08-26T22:00:00+00:00
23
Am nächsten Tag hockte ich hinter meinem Baum vor dem Minimarkt und wartete auf das Schichtende des jungen Verkäufers. Im Gesicht, da, wo Daisy mich geschlagen hatte, als ich am Abend zuvor erst um Mitternacht nach Hause gekommen war, trug ich einen lilagrünen Fleck. Er ließ mich bunter wirken, fand ich, ein farbiges, verzerrtes Gesicht, ein lebendiger Picasso.
Stundenlang starrte ich die Ladentür an, bis er endlich, Punkt sieben, herauskam. Er trug eine Jacke und einen olivgrünen Armeerucksack. Ich stand auf und wartete, bis er genug Vorsprung hatte, dann folgte ich ihm. Ich benutzte die gleiche Taktik wie bei James. Duckte mich hinter geparkten Autos und Bäumen und betrat schnell ein Geschäft, wenn er mal über die Schulter blickte. An einer Bushaltestelle setzte er sich auf die Bank. Ich wartete hinter einem Baum, bis der Bus kam, und als die Türen gerade schließen wollten, sprang ich hinein, zog mir die Kapuze über den Kopf und setzte mich ganz nach hinten. Es roch nach Lehm im Bus. Nach Lehm und dem undefinierbaren Geruch der Menschen, die in ihrem Morgen-, Mittags- und Feierabenddusel mit dem Bus gefahren waren. Nach ein paar Minuten sah ich mich vorsichtig um. Er saß neben einer alten Dame mit weiß gelocktem Haar (wie ein Schaf) und sah aus dem Fenster. Ich sah die Welt an seinen gespiegelten Augen vorbeiziehen.
Einige Haltestellen später stand er auf und winkte dem Busfahrer zum Abschied, also stand ich ebenfalls auf und sprang aus dem Bus, ohne bezahlt zu haben. Ich schlich weiter hinter ihm her. Und auf einmal drehte er sich wie aus heiterem Himmel um und sah mich an.
Der Magen rutschte mir in die Hose und das Herz in den Hals. Als hätte jemand an einem Gummiband gezogen, das von meinen Fußknochen bis zur Schädeldecke gespannt war, und es dann losgelassen. Ich war noch nie beim Stalken erwischt worden.
»Was machst du da?«, fragte er.
Ich machte den Mund auf, aber es kam nur ein Keuchen heraus. Ich versuchte meinen Rachen mit Worten zu füllen, aber er blieb leer. Ich ging ein paar Schritte rückwärts und betete darum, mit dem Boden zu verschmelzen oder von einer der zerrupften Krähen aufgepickt zu werden, die vereinzelt durch die Luft segelten. Nichts geschah. Ich ließ den Kopf hängen und sah auf meine Schuhspitzen.
»Verfolgst du mich etwa?«
Ich sah ihn an, vorsichtig, schüchtern, aber ich vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Tiere machen das manchmal, wenn man sie direkt ansieht. Ich war wohl auch so ein Tier. Ich war genauso dreckig, genauso naiv, und meine chaotischen, aber ausgeprägten Gedanken setzten sich aus verstreuten Fragmenten zusammen. Ich vergrub die Hände tief in den Taschen.
Er fragte nicht, warum ich nicht antwortete. Er sagte nur: »Ich bin Charlie.«
Charlie. Er streckte mir die Hand entgegen. Hand. Das Schönste an einem Mann mussten seine Hände sein.
Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, ich sei innerlich tot. Meine Haut, einst rosig, war jetzt bleich. Meine Augen, einst glänzend und neugierig, waren jetzt stumpf und leer. Mein Herz, einst schlagend und voller Leben, war jetzt schwarz und verschrumpelt wie eine Rosine.
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