Die Freien by Vlautin Willy

Die Freien by Vlautin Willy

Autor:Vlautin, Willy [Vlautin, Willy]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783827078469
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-10-12T16:00:00+00:00


15

Pauline kam aus der Cafeteria. Sie versuchte im Gehen eine Tasse Kaffee zu balancieren und dabei ein Stück Schokokuchen zu essen. Sie kam zum Treppenhaus, stellte den Kuchenteller auf die Kaffeetasse, drückte die Tür auf und stieg die fünf Stockwerke nach oben.

Auf Zimmer 8 schlief eine ältere Frau mit Komplikationen nach einer Speiseröhrenoperation wegen chronischer Refluxösophagitis. Bei ihr waren starke Rückenschmerzen aufgetreten und ihre Pulsfrequenz hatte sich stetig erhöht, während ihr Blutdruck gefallen war. Sie war für eine Computertomografie vorgesehen, um nach möglichen Blutungen zu suchen, die auf den Röntgenaufnahmen nicht zu sehen waren. Ihr Mann und ihre drei pubertierenden Töchter gingen nervös im Zimmer auf und ab. Pauline prüfte die Vitalwerte der Frau, sprach mit der Familie und gab ihre Daten ein.

Auf Zimmer 5 sah Mr Delgado fern und aß Pommes, die seine Frau ihm mitgebracht hatte. Sie saß neben ihm, trank einen Milchshake von McDonald’s und aß einen BigMac. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während die Schwester ihre Arbeit verrichtete, und obwohl es gegen die Krankenhausregeln verstieß, einem Patienten Essen mitzubringen, ignorierte sie es und ging.

Auf Zimmer 3 lag Mrs Dawson, eine Frau, die sich von einer Darmteilresektion erholte, und auf der 4 wartete Jo, die operiert worden war. Das Mädchen lächelte, als es Pauline hereinkommen sah.

»Du bist wach und liegst wieder auf meiner Station. Das finde ich sehr schön. Wie geht es dir, Jo?«

»Ganz gut, glaube ich.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie stark sind deine Schmerzen?«

»Vier«, sagte Jo.

Pauline warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe ein paar Minuten Zeit und mir tun die Füße weh. Hast du was dagegen, wenn ich mich hinsetze?«

Jo schüttelte den Kopf.

Pauline setzte sich auf den Stuhl am Bett. »Wie war die OP?«

»Nicht so schlimm, wegen der Vollnarkose.«

»Habe ich dir doch gesagt.«

»Ich bin froh, dass Sie mich holen gekommen sind.«

»Ich auch.« Pauline zog die Schuhe aus, streckte ihre Füße aus und zog sie dann wieder an. »Hast du was gegessen?«

»Eigentlich nicht«, sagte das Mädchen.

»Das Krankenhausessen ist nicht so schlecht, wie es immer heißt.«

»Ich weiß.«

»Kann ich dir mal was sagen? Dafür, dass du so wild gelebt hast, hast du tolle Haut. Alle Schwestern reden davon.«

Jo versuchte ein Lächeln, aber ihr Gesicht blieb sorgenvoll.

»Das wird schon wieder mit dir«, sagte Pauline.

»Aber was soll ich jetzt machen?«

»Gesund werden«, sagte Pauline.

»Wo soll ich dann hin?«

»Darüber kannst du dir Gedanken machen, wenn du wieder ein bisschen zu Kräften gekommen bist.«

»Aber sie fahren ohne mich.«

Pauline warf einen Blick auf den Flur hinaus, und als sie niemanden sah, drehte sie sich zu dem Mädchen um und flüsterte: »Sie hätten dich kränker werden lassen, bis du verreckst oder dein Bein verlierst. Vergiss das nicht, es ist wahr. Es tut vielleicht weh, das zu hören, aber du bist ihnen egal, Jo. Einfach egal … Hör mal, ich weiß, du bist ganz allein, aber du musst lernen, wie du es dir allein gutgehen lassen kannst. Wenn du das nicht tust, bringst du dich in Situationen wie diese hier, und das hast du nicht verdient.«

»Vielleicht habe ich es doch verdient«, sagte sie.



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