Die Flucht: Roman (German Edition) by Jesus Carrasco
Autor:Jesus Carrasco [Carrasco, Jesus]
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2013-02-20T23:00:00+00:00
7
Er schlug die Augen erst wieder auf, als der Schatten der Mauer seine scharfen Konturen verloren hatte und sich als länglicher Fleck zum leeren Horizont hin verflüchtigte. Der Alte lag wach neben ihm, die Hände über der Brust gefaltet, den Blick starr gen Himmel gerichtet, als suchte er einen Weg zwischen den Kragsteinen der über ihren Köpfen schwebenden Brustwehr hindurch. Der Junge richtete sich auf und blieb, verloren in die Ferne blickend, sitzen.
»Wie viele Ziegen sind noch da?«, fragte der Alte.
»Drei.«
»Der Bock zählt nicht?«
»Der ist verschwunden.«
Seufzend schloss der Hirte die Augen.
»Haben sie den auch aufgeschlitzt?«
»Ich weiß nicht. Hier sind nur tote Ziegen.«
»Schau genau nach.«
Der Junge stand auf und ließ den Blick über das vor ihm liegende Gelände schweifen. Mit dem Zeigefinger in der Luft zählte er die Kadaver.
»Sechs tote Ziegen. Hund und Bock sind weg.«
Der Alte meinte, früher oder später würde der Hund zurückkehren, wo immer er sich versteckt halte. Den Bock allerdings, so vermutete er, hätten sie an den Hörnern gepackt und mit sich fortgeschleppt. Vielleicht würde der Polizeiwachtmeister ihn schlachten, um mit dem Kopf seine Trophäensammlung zu ergänzen.
»Du musst so schnell wie möglich Wasser herbeischaffen.«
»Wenn Sie Durst haben, kann ich eine Ziege melken. Ich weiß jetzt, wie das geht.«
»Es sind die Tiere, die Wasser brauchen.«
Der Junge schnappte sich den Eimer. Einige Meter vor der Wasserstelle erspähte er mehrere Raben auf dem Brunnenrand. Als er dort ankam, verscheuchte er die Vögel mit der Hand und beugte sich über das Loch. Er vernahm ein Summen und befürchtete das Schlimmste. Das schräg einfallende Abendlicht drang kaum bis zum Grund vor, doch es reichte, um den enthaupteten Kadaver des Ziegenbocks zu erkennen, der mit aufgeschlitzten Gedärmen im Wasser schwamm. Sämtliche Fliegen der Gegend hatten sich zum Festschmaus versammelt. Sie gingen ein und aus wie Gäste bei einer großen Feier. Der Galgen über dem Brunnenrand übersät von schwarzen Punkten.
Es war schon fast dunkel, als er zur Mauer zurückkehrte. Er erzählte dem Alten, was er vorgefunden hatte, der vor Wut ächzte angesichts dessen, was ihnen drohte. Der Junge sah den Hirten niedergeschlagen wie noch nie.
»Keine Sorge. Wir finden bestimmt noch mehr Wasserstellen hier in der Gegend.«
»Nein. Es gibt keine.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es.«
»Dann gehen wir eben woandershin.«
»Ich kann nirgendwohin gehen.«
Der Junge verstummte. Wenn der Hirte sich nicht fortbewegen konnte, würde er Wasser besorgen müssen. Er dachte an die letzten Tage, den Sonnenstich, den Durst, die Nachtmärsche und bekam Angst, denn nur dank der Gegenwart des Hirten hatte er es geschafft zu überleben.
»Du wirst alleine losziehen müssen, um Wasser zu holen.«
»Ich weiß nicht, wohin.«
»Das werde ich dir sagen.«
»Ich habe Angst.«
»Du bist ein sehr tapferer Junge.«
»Bin ich nicht.«
»Du hast es bis hierher geschafft.«
»Weil Sie bei mir waren.«
»Weil du einen starken Willen hast.«
Der Junge wusste keine Antwort.
»Hast du den Heiligenschein der Christusfigur dort oben gesehen?«
»Ja. Er hat drei Spitzen.«
»Das sind Lichtstrahlen. Einer steht für die Erinnerung, der zweite für die Vernunft und der dritte für den Willen.«
Der Junge blickte nach oben. In der Abenddämmerung zeichnete sich hoch über der Mauer die schwarze Gestalt ab, deren Gewand, Hände und Heiligenschein man nur erahnen konnte.
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