Die Farben der Hoffnung by Sankaran Lavanya

Die Farben der Hoffnung by Sankaran Lavanya

Autor:Sankaran, Lavanya [Sankaran, Lavanya]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257604382
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-06T00:00:00+00:00


[248] 16

Würde man Kamala heute fragen, wie sie sich damals als junge, verwitwete Mutter, ohne jede Erfahrung und (wenn man von obigem Fiasko ausgeht) mit nur unwesentlich mehr Klugheit und Urteilsfähigkeit, durchgeschlagen habe – dann würde sie mit dem ganzen Gewicht ihrer Würde antworten: »Nun Sir, ich habe es zuwege gebracht. Irgendwie habe ich es zuwege gebracht«, und dabei würde sie mit ihren schmalen goldenen Armreifen klimpern, um anzudeuten, dass sie in gewisser Hinsicht sogar mehr als das geleistet hatte.

Zu ihrem Bruder zurückzugehen war keine Option, egal, was kommen mochte. Falls sie jemals ins Dorf zurückkehrte, dann nur voller Kraft und Selbstachtung, sonst nicht.

Ihr blieb nur eine Alternative.

Sie wurde ein Kuli, eine Tagelöhnerin. Ein Stand, der ihr unendlich weit von der Achtbarkeit jener entfernt schien, die ein monatliches Einkommen hatten oder das Land beackerten, das schon ihren Vorfahren gehört hatte. Als Kuli arbeitete man den ganzen Tag und erhielt abends seinen Lohn, den man nach Belieben vertrinken, sonst wie ausgeben oder verlieren konnte. Ein Kuli hatte keine feste Stelle und keine festgelegte Tätigkeit. Man ging dahin, wo es [249] Arbeit gab, an einem Tag arbeitete man auf der Baustelle, am nächsten säuberte man vielleicht eine verdreckte Abflussrinne. Und angesichts des stetigen Zustroms von Dorfbewohnern in die Stadt wurde ein Kuli, der heute aus irgendeinem Grund nicht kam, morgen einfach durch einen anderen ersetzt.

Kamala arbeitete auf dem Bau. Natürlich nicht auf einer jener großen Baustellen, auf denen in kürzester Zeit Hochhäuser aus Glas und Beton emporwuchsen – die wurden von Männern mit gelben Helmen und riesigen, phantastischen Maschinen errichtet –, sondern auf den kleineren: Wohnhäuser, kleine Bürohäuser, die Backstein um Backstein allein mit der Muskelkraft der Arbeiter gebaut wurden, Männer und Frauen, so wie sie.

Der Bauleiter hatte sie von Kopf bis Fuß gemustert und sofort angestellt. Sie lernte schnell, brachte sich selbst bei, mit einem flachen Korb voll Zement, Sand oder Ziegelsteinen auf dem Kopf über die schmalen Balken zu balancieren, die eine halbfertige Mauer mit der anderen verbanden; mit festem Schritt zu gehen, damit sie nicht in die Baugrube hinunterstürzte und sich das Genick brach. Sie lernte, sich in die Kette der Arbeiter einzureihen, die mechanisch hoben, trugen, weiterreichten und ablegten, wie man sie angewiesen hatte, eine Arbeit, die das Geschick eines Affen, das Gehirn eines Kindes und die Kraft jedes einzelnen Muskels in ihrem Körper erforderte, und das zehn Stunden am Tag.

Sie bekam für ihre Arbeit nur halb so viel Geld wie die Männer. Das sei normal, sagte man ihr, es sei eine Arbeit, bei der vor allem die Muskelkraft zähle, und davon hätten Männer nun mal mehr. Ihr Verdienst reichte nicht, um anständig [250] zu wohnen, essen und sich zu kleiden, aber die Arbeit hatte einen großen Vorteil: Kamala konnte das Kind mit auf die Baustelle nehmen, es im Tragetuch an einen Baum hängen und dort schlafen lassen, während sie arbeitete. Und wenn der Kleine hungrig aufwachte und laut schrie, bis seine Mutter sich seiner annehmen konnte, machte das niemandem etwas aus. Inmitten des Lärms und Krachs der Baustelle störte die Stimme eines Säuglings keinen.



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