Die Dringlichkeit und die Geduld by Jean-Philippe Toussaint

Die Dringlichkeit und die Geduld by Jean-Philippe Toussaint

Autor:Jean-Philippe Toussaint
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2012-07-26T00:00:00+00:00


Proust lesen

PROUST LESEN

Es ist eher die Ausnahme, glaube ich, dass jemand die mehr als dreitausend Seiten von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Zug durchliest (aber wie zum Teufel kann man solche umfangreichen Bücher überhaupt schreiben). Wenn ich darüber nachdenke, ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sicher eines dieser seltenen Bücher, die ich eher wiedergelesen als gelesen habe, in denen ich im Lauf der Jahre regelmäßig herumgepickt habe und schließlich nicht immer mehr genau wusste, ob ich die jeweilige Passage, die ich gerade las, nicht schon wenigstens einmal zuvor gelesen hatte.

Durch seinen Reichtum und seinen außergewöhnlichen Umfang ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein Buch, das uns ein Leben lang begleitet. So passiert es mir häufig, dass ich, merkwürdig genug, beim Lesen oder Wiederlesen einer bestimmten Passage, die ich schon zehn Jahre zuvor gelesen hatte, oder einer anderen, die ich gerade entdeckt habe und bei der ich mich nicht erinnern kann, ob ich sie schon jemals gelesen habe, durch einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Person ein Déjà-lu-Erlebnis bekomme, so sehr überschneiden sich die einen Passagen mit den anderen, sie sind in dem gigantischen Spinnennetz des Werks so eng miteinander verbunden, dass in meiner Vorstellung, genau wie aus der Teetasse des Erzählers, wenn er den Geschmack des in Lindenblütentee getauchten Stücks seiner Madeleine wiedererkennt, die Quintessenz des Buches selbst auftaucht, das ich damals gerade in den Händen hielt, der Geruch und die Textur der Seiten, der weiche, flexible Ledereinband der Pléiade-Ausgabe, die ich zu diesem Zeitpunkt las, die Leichtigkeit des Bibelpapiers, aber auch der Sessel, in dem ich saß, das Zimmer in der Wohnung meines Großvaters, in der ich damals lebte, die schweren Vorhänge aus gelb glänzendem Samt und das goldene Licht der Leselampe, der schöne Perserteppich, die Zimmermöbel, das Bett, die verglaste Bibliothek voller Bücher und mit Stapeln von Manuskripten. All das und dazu noch der besondere Geruch dieses Zimmers, diese Mischung aus Muff und Staub, die mir jetzt flüchtig durch die Nase zieht. Es handelt sich überhaupt nicht um eine Anstrengung meines Gedächtnisses oder eine Anspannung meines Geistes oder eine Heldentat meiner Konzentration, sondern um pure Magie, um jene pure Magie, die es uns manchmal erlaubt, durch einen zufällig aufgeschnappten Geschmack oder den wiedererkannten Geruch eines Parfums für einen Moment die Vergangenheit in der Gegenwart wiederauferstehen zu lassen und solcherart den Raum einiger Sekunden unversehrt und unverändert wiederzufinden, nicht auf intellektuelle, überlegte Weise, sondern rein durch Zufall, delikat und sinnlich, das Wesen dessen, was für immer verschwunden ist (mit anderen Worten und kurzgefasst, die verlorene Zeit).

Ich war in meinen Zwanzigern, als ich mich zum ersten Mal an Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wagte, mit viel Umsicht und Bedacht (als ob das Buch durch seinen Umfang und seine Bedeutung etwas Einschüchterndes hätte, als sei ich noch nicht in dem Maße würdig gewesen, es selbst zu lesen, und müsste es mit viel Vorsicht öffnen), und auf den Ratschlag meiner Mutter hin übersprang ich gleich völlig ungeniert den ersten



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