Die Blutschrift: Historischer Roman (German Edition) by Young Robyn

Die Blutschrift: Historischer Roman (German Edition) by Young Robyn

Autor:Young, Robyn [Young, Robyn]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Blanvalet Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 2014-10-19T22:00:00+00:00


23

Der Königspalast, Paris

1. November A. D. 1266

Elwen raffte ihre Röcke und hüpfte leichtfüßig durch den Matsch. In der Nacht hatte es zu regnen begonnen, und der Boden rund um die Kapelle war aufgeweicht. An diesem feuchten Morgen wirkte das majestätische Gebäude grau und trist, die steinernen Gesichter an den Wänden hatte der Regen dunkel gefärbt. Gegenüber dem Eingang stand eine alte Eibe. Elwen kauerte sich unter die tief herabhängenden buschigen Zweige und wartete, den Blick unverwandt auf die Tür der Kapelle gerichtet.

Im Rahmen ihres Dienstes für die Königin war Elwen schon mehrmals in Sainte-Chapelle gewesen, doch das erste Mal würde ihr unvergesslich bleiben. Zwei Tage nach ihrer Ankunft in Paris hatte sie das hinter einer Mauer verborgene, von Bäumen umgebene zweistöckige Gebäude entdeckt, war zur Tür geschlichen, hatte neugierig hineingespäht und war dabei von König Louis überrascht worden. Voller Angst vor einer Bestrafung war sie mehr als erstaunt gewesen, als der König sie angelächelt und sie aufgefordert hatte, mit ihm zusammen die Kapelle zu besichtigen. Sie hatte versucht, das gesamte Innere zugleich in sich aufzunehmen, während der König sie durch das untere Geschoss geführt hatte – die prachtvollen Buntglasfenster, die bunten Wandbilder, die lebensechten Statuen an den Wänden. Im oberen Geschoss, dem Privatgemach des Königs, stand vor dem Altar ein Marmorsockel, auf dem ein kleines, gebogenes Stück Holz lag. Sie hatte es erst nicht glauben wollen, als Louis ihr erzählt hatte, dass dieses scheinbar wertlose Holzstückchen, das aus Konstantinopel stammte, den König dazu veranlasst hatte, diese Kapelle zu erbauen. Aber als Louis ihr mit unüberhörbarer Ehrfurcht in der Stimme erklärt hatte, es sei ein Teil von Christus’ Dornenkrone, hatte Elwen sofort begriffen. Mit diesem Stück Holz verhielt es sich wie mit den Schätzen, die sie selbst sammelte – es war nicht einfach ein Holzstück, sondern es verkörperte alles, was dem König wichtig war – seinen Glauben, seine Träume, seine Hoffnungen. Fast eine Stunde lang hatten sie vor der Reliquie gebetet, und Elwen hatte sich noch nie so warm und geborgen gefühlt wie an jenem Tag, an dem sie an der Seite des Königs von Frankreich auf dem eiskalten Steinboden gekniet hatte; sie in ihrem schlichten weißen Kleid, er in seinem zinnoberroten, mit Hermelinpelz gesäumten Umhang. Danach hatte der König nur selten von ihr Notiz genommen, aber für Elwen war diese eine Stunde genug gewesen.

Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Hoffentlich nahm die Schönheit von Sainte-Chapelle den Troubadour nicht noch sehr viel länger gefangen. Seit vier Tagen lauerte sie auf eine Gelegenheit, mit Pierre de Pont-Evêque zu sprechen, aber er war stets von einer Schar schnatternder Hofdamen und neugieriger Edelleute umgeben. Everard hatte gesagt, sie müsse das Gralsbuch an sich bringen, bevor Pierre mit seiner Vorstellung begann.

Die Große Halle wurde bereits hergerichtet, die Tische wurden mit Platten und Weinkelchen gedeckt, die Wände mit Bannern behängt, die Fackeln entzündet. Festtagsstimmung lag in der Luft, denn heute war Allerheiligen; der Hof und die zu Besuch weilenden Edelleute würden mit dem König und seiner Familie an einem speziellen Vespergottesdienst in Sainte-Chapelle teilnehmen, danach folgten der Auftritt des Troubadours und ein Bankett.



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