Die Beutefrau by Martina Kempff

Die Beutefrau by Martina Kempff

Autor:Martina Kempff [Kempff, Martina]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-03-23T04:00:00+00:00


9

Mißverständnisse

Im Jahr 799

»Er lebt! Er lebt!« rief der Bote, der Karl dem Jüngeren und seiner kleinen Schar unweit der Tore Aachens entgegengeritten kam. »Er lebt, und er kann wieder sehen!«

Gerswind, die das letzte Stück des Ritts unablässig an Teles gedacht und gegrübelt hatte, ob sie das seltsame Geschehen in der Nacht zuvor tatsächlich oder nur im Traum erlebt hatte, reckte die Arme zum Himmel und jauchzte: »Ein Wunder!«

»Fürwahr«, gab der Bote zurück, der sein Pferd inzwischen neben das Carolinos gelenkt hatte. »Ein doppeltes Wunder im übrigen, denn Gott hat dem Heiligen Vater nicht nur das Augenlicht, sondern auch die Zunge wiedergegeben.«

Der Heilige Vater! An das Schicksal des Papstes hatte Gerswind überhaupt nicht mehr gedacht. Sie biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr vor Enttäuschung aus den Augen quellen wollten.

Nachdem der Bote Richtung Saint Riquier davongeeilt war, drückte Carolino Gerswind leicht an sich.

»Wie schön, daß du dich so für den Heiligen Vater freust«, bemerkte er. »Ein Beweis dafür, daß aus der kleinen heidnischen Sächsin doch eine echte Fränkin rechten Glaubens geworden ist. Auch wenn ich an ein Wunder nicht so recht glauben mag. Wie können einem Menschen so schnell neue Augen und eine zweite Zunge wachsen? Aber gut, der Herr, unser Gott, ist allmächtig und konnte seinen Stellvertreter nicht ohne Augen und sprachlos lassen.«

»Ich dachte, er spräche von Teles«, flüsterte Gerswind enttäuscht.

»Ach, mein Mädchen!« Carolinos Stimme klang leicht belustigt. »Der Referendarius ist ein guter Mann, gewiß, aber keinesfalls so wichtig, daß man seinetwegen einen Boten zu meinem Vater senden würde.«

Deinem Vater war er aber wichtig genug, mich zu ihm zu schicken. Mit dir und einer Scara. Aber das sagte sie nicht laut.

Carolino hielt ihre Mitte umfaßt, doch der Druck, den sie in der Magengegend verspürte, kam von innen. Wie ein schwerer Stein hatte sich ihr Herz bei den Worten ihres Begleiters gesenkt. Er hatte zu ihr von Liebe gesprochen, aber was dieses Gefühl ausmachte, war ihm offenbar fremd. Sonst hätte er wissen müssen, daß sie Teles liebte, diesen alten Griechen, der ihr so viele Jahre wie ein Vater gewesen war. Er hätte erahnen müssen, daß ihre Gedanken nicht um einen ihr unbekannten fernen Papst kreisten, sondern um jenen im Sterben liegenden Menschen, dem sie mehr als allen anderen vertraute und dessentwegen sie nach Aachen reisten. Karl, der König, hatte das verstanden. Ausgerechnet er, der unzählige junge Frauen in sein Bett einlud, hatte seltsamerweise das Wesen der Liebe besser erfaßt als sein Sohn, der sich keinerlei Ausschweifungen hingab und jahrelang einer angelsächsischen Königstochter nachgetrauert hatte.

Gerswinds Herz wurde ein wenig leichter, als sie daran dachte, wie liebevoll Karl sie auf die Reise geschickt hatte. Betroffen fiel ihr ein, daß sie seinen Auftrag bei ihrer nächtlichen Begegnung mit Teles ganz vergessen hatte. Aber vielleicht war es ja doch nur ein Traum gewesen. Vielleicht würde sie Teles noch bitten können, der Mutter des Königs in der vollkommenen Welt die Grüße des Sohnes auszurichten.

»Können wir schneller reiten?« fragte sie Carolino zaghaft.

»Aber gewiß!« rief er. »Halt dich gut fest!«

Sie schloß die Augen, als er seinem Pferd in die Seite trat.



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