Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen by Bender Aimee

Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen by Bender Aimee

Autor:Bender, Aimee
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2011-08-14T16:00:00+00:00


Kapitel 23

23Zum ersten Mal offiziell verschwunden – offiziell in dem Sinn, dass außer mir noch jemand zugegen war – ist mein Bruder am Tag seiner Highschool-Abschlussfeier. Es war ein trüber Juninachmittag, grauweißer Himmel, matte Blätter an den Bäumen. Seit den Absagen von den Colleges war Joseph einerseits konzentriert, andererseits abgelenkt gewesen, hatte jedoch seine sonntagabendliche Lieblingsaufgabe, meiner Mutter die Splitter aus den Fingern zu ziehen, erfüllt und war bis zum letzten Tag in die Schule gegangen. Unsere Eltern hatten keine Partys oder Essen mehr besucht, so dass sich zu meiner Enttäuschung keine Babysitterzeit mit Verschwinden mehr ergeben hatte; kein Gelächter, keine Gespräche. Am Tag seiner Abschlussfeier sollte Joe sich also fertig machen, Barett und Talar anprobieren und wo nötig mit Sicherheitsnadeln nachhelfen; ich in meiner Rolle als jüngere Schwester beziehungsweise Hüterin des Hauses sollte ihn zum Auto treiben, damit er rechtzeitig zur Stellprobe in der Schule war. Aber die Lämmer waren los, ich konnte ihn nirgends finden.

Joe ist nicht in seinem Zimmer, teilte ich Mom mit, die sich vor dem Außenspiegel am Auto die Lippen nachzog. Das ist wieder das, von dem ich dir erzählt habe.

Sie blickte hoch, die Lippen pink schimmernd. Ist er vielleicht im Bad?, fragte sie.

Da hab ich schon geschaut, sagte ich.

Es war kurz vor zwölf, wir mussten los; die Sonne brannte die Wolken weg, und pünktlich auf die Minute kam George um die Ecke des Vista Boulevard und lief auf uns zu. Er hatte sein schwarzes Barett auf, den frisch gebügelten Talar über dem Arm und machte einen übermütigen Diener.

Ich kann’s nicht fassen, dass ihr Jungs mit der Schule fertig seid!, seufzte Mom, ging auf ihn zu und umarmte ihn.

Gemeinsam bewunderten wir sein Barett und strichen über die samtige goldene Troddel. Das Telefon klingelte, und Mom lief ins Haus. Da sie die Tür offen ließ, hörte ich, auch wenn ich nicht verstand, was sie sagte, wie ihre Stimme leiser wurde, eine eindringliche Intimität annahm. Den Ton kannte ich von nachmittäglichen Anrufen.

Herzlichen Glückwunsch, sagte ich zu George.

Hey, Rose, sagte er und pinnte die Sicherheitsnadel an seinem Barett neu fest. Was macht das Leben?

Er sah plötzlich viel älter aus, mit seiner College-Zulassung in der Tasche. Irgendwie noch ebenmäßiger.

Joe ist weg, sagte ich.

Wo ist er denn hin?

Keine Ahnung.

Also, wo ist er?, fragte Mom, als sie wieder herauskam, etwas munterer um die Augen.

Jedenfalls nicht in seinem Zimmer, sagte ich.

Ob er allein los ist?, fragte George, der immer noch an seinem Barett herumnestelte.

Joseph?, fragte ich ungläubig.

Wohl eher nicht, sagte George lachend.

Meine Mutter zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und ging zurück ins Haus; wir folgten ihr. Obwohl die Situation wirklich unangenehm war, war ich froh darum, froh, dass die beiden da waren, während Joseph sich in Luft aufgelöst hatte, froh, dass George da war, dass wieder dasselbe passierte, nur diesmal unter Zeugen. George lief mit langen, selbstbewussten Schritten durch das Wohnzimmer. Auf der Küchentheke kühlten frisch gebackene Brownies aus, für die Party danach. Wir riefen nach Joseph wie nach einem weggelaufenen Hund.

Dass das ausgerechnet am Tag seiner Abschlussfeier passierte, war kein Zufall.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.