Die Badende von Moritzburg: Eine Sommernovelle by Ralf Günther

Die Badende von Moritzburg: Eine Sommernovelle by Ralf Günther

Autor:Ralf Günther [Günther, Ralf]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fiction, Biographical
ISBN: 9783463406862
Google: oOxCDgAAQBAJ
Amazon: 3463406861
Herausgeber: Rowohlt Verlag GmbH
veröffentlicht: 2017-05-18T22:00:00+00:00


Reform des Lebens

Einige Anmerkungen zum historischen Hintergrund

Die Geschichtswissenschaftler nennen das neunzehnte mittlerweile das «lange Jahrhundert» und lassen es im Inferno des Ersten Weltkriegs untergehen. Drei große Reiche, die diese Epoche auf die eine oder andere Weise geprägt hatten, gibt es nach diesem Krieg nicht mehr: das Zarenreich, das Osmanische Reich und das deutsche Kaiserreich. Die Welt des neunzehnten Jahrhunderts, die der Kavaliere und Duelle, der Mätressen und Boudoirs, das Luxusleben gelangweilter Adliger, die Welt der geknechteten Bauern und der handgefertigten Produkte, die Fortbewegung zu Fuß und zu Pferde, die Welt der ländlichen Großfamilien und dörflichen Gemeinschaften, der Hausgeburten und von Dorf zu Dorf ziehenden Schausteller, Händler und Quacksalber – all dies und noch vieles mehr ist im Absterben begriffen.

Von den zahlreichen und vielschichtigen Auswirkungen, die die industrielle Revolution hatte, ist die Verstädterung eine der bedeutendsten. Im 20. Jahrhundert wird ein Großteil der Menschheit in Städten leben. Dort wird die neue Zeit gemacht. Dort werden Länder regiert und die Welt erforscht. Wer auf dem Land lebt, lebt in der Vergangenheit. In den Städten hingegen hat die Zukunft bereits begonnen. Diese Entwicklung setzt sich weltweit bis in unsere Zeit fort. Sie ist immer noch nicht abgeschlossen. Der Mensch löst sich aus den traditionellen, ländlich geprägten, großen Familienverbänden. Die Kleinfamilie wird zur Regel, und so manches Individuum ohne Familienanschluss vereinzelt, ob gewollt oder ungewollt. Diese Entwicklungen und weitreichenden Veränderungen gehen nicht einfach über die Menschen hinweg. Die Menschen haben sie registriert, gespürt, erlitten – sie wurden deformiert, und sie haben, zumindest teilweise, reagiert.

Ein großer Verlust in diesem Zusammenhang war die Entwöhnung, ja die Entfremdung von der Natur. In den neu entstehenden Metropolen gab es lange Zeit kaum natürlichen Erfahrungsraum. Es entsteht eine Sehnsucht nach der unberührten Natur, die man in der Stadt nicht erfahren kann. Durch die beengten Bedingungen, nicht nur in den Wohnungen, auch in den aus dem Boden schießenden Fabriken, leidet die Gesundheit der Menschen, vor allem der ärmeren unter ihnen: Vitaminmangelerkrankungen, rachitische Knochenverformungen, Fehlernährungen werden zum Massenphänomen. Aber auch von der eigenen, inneren Natur wird der Mensch entfremdet. Der moderne Mensch wird, das hat niemand so genial einfach gezeigt wie Charlie Chaplin in seinem Film «Moderne Zeiten», mehr vom Takt der Maschinen bestimmt als von seinem Biorhythmus. Die Arbeitszeiten bestimmen den Zeitpunkt des Aufstehens, nicht die Morgensonne. Das Leben gegen die Bedürfnisse seiner Biologie setzt den Menschen unter Stress, die physischen ebenso wie die psychischen Erkrankungen nehmen zu.

Die Zeit des Biedermeier in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist geprägt durch strengste Konventionen, was Kleidung, Sitten und Moral anbelangt. Zugleich verliert im Zuge der Verstädterung die Sozialkontrolle – ein sehr prägendes Merkmal des Zusammenlebens auf dem Lande – an Einfluss. Die Menschen leben zwar enger zusammen, sind stärker aufeinander angewiesen, durch die Arbeit und die Tagesrhythmen extrem miteinander verzahnt – und doch leiden sie immer mehr an sich selbst als aneinander. Berühmte Romane aus jener Epoche handeln vom Menschen als auf sich selbst zurückgeworfenes Einzelwesen. Kafka, Joyce, Proust – ihre Werke sind die ersten Bestandsaufnahmen der Verformung des Menschen durch die Moderne.



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