Der Zitronentisch by Julian Barnes

Der Zitronentisch by Julian Barnes

Autor:Julian Barnes [Barnes, Julian]
Die sprache: deu
Format: mobi
ISBN: 9783462305395
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2012-10-11T17:05:43+00:00


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RINDE

Für das Festmahl von Jean-Etienne Delacour waren nach den Anweisungen seiner Schwiegertochter Madame Amélie die folgenden Speisen zubereitet worden: Bouillon, das darin gesottene Rindfleisch, ein gegrillter Hase, geschmorte Tauben, Gemüse, Käse und Fruchtgelees. Delacour gab sich widerstrebend gesellig und gestattete, dass man ihm einen Teller mit Bouillon vorsetzte; zur Feier des Tages hob er sogar einen rituellen Löffel davon an die Lippen und blies huldvoll darauf, wonach er ihn unangetastet wieder sinken ließ. Als das Rindfleisch aufgetragen wurde, nickte er dem Diener zu, der ihm, auf separaten Tellern, eine einzelne Birne sowie eine Scheibe Rinde vorlegte, die etwa zwanzig Minuten zuvor vom Baum geschnitten worden war. Delacours Sohn Charles, seine Schwiegertochter, sein Enkelsohn, sein Neffe, die Frau des Neffen, der Curé, ein Bauer aus der Nachbarschaft wie auch Delacours alter Freund André Lagrange – sie alle machten keine Bemerkung darüber. Delacour seinerseits hielt höflich Schritt mit seiner Umgebung, indem er ein Viertel der Birne aß, während sie ihr Rindfleisch verzehrten, ein Viertel zu dem Hasen und so immer weiter. Als der Käse aufgetragen wurde, zog er ein Taschenmesser hervor, schnitt die Baumrinde in Scheiben und kaute dann jedes einzelne Stück langsam auf. Später nahm er zur Förderung des Schlafes eine Tasse Milch, ein wenig gedünsteten Salat und einen Renette-Apfel zu sich. Sein Schlafzimmer war gut gelüftet und sein Kissen mit Rosshaar gefüllt. Er trug Sorge, dass sein Brustkorb nicht von Decken niedergedrückt wurde und die Füße warm blieben. Während er sich die leinene Nachtmütze an den Schläfen zurechtzupfte, sann er zufrieden über die Torheit seiner Mitmenschen nach.

Jean-Etienne war nun einundsechzig Jahre alt. In früheren Zeiten war er ein Spieler und dazu noch ein Schlemmer gewesen, eine Mischung, die seinen Haushalt oftmals in Armut zu stürzen drohte. Wo immer Würfel gerollt oder Karten gemischt wurden, wo immer sich zwei oder mehr Tiere bewegen ließen, zum Vergnügen des Publikums um die Wette zu laufen, dort war Delacour zu finden. Er hatte beim Pharao und beim Hasard, beim Backgammon und beim Domino, beim Roulette und beim Rouge et Noir gewonnen und verloren. Er spielte mit kleinen Kindern Kopf oder Zahl, verwettete sein Pferd beim Hahnenkampf, legte mit Madame V… Streitpatiencen, und wenn er keinen Rivalen oder Gefährten fand, spielte er Solitär.

Es hieß, seine Schlemmerei habe seiner Spielleidenschaft ein Ende gesetzt. Gewiss fanden in solch einem Mann nicht beide Leidenschaften Raum, sich voll zu entfalten. Der Moment der Krisis war gekommen, als eine genudelte Gans, die man in wenigen Tagen hätte schlachten können – eine Gans, die er mit eigener Hand gefüttert hatte und die ihm schon im Vorhinein bis zum letzten Bissen auf der Zunge zergangen war –, im Handumdrehen bei einem Pikettspiel verloren ging. Eine Weile saß er zwischen seinen beiden Versuchungen wie der sprichwörtliche Esel zwischen zwei Heubündeln; doch statt zu verhungern wie das unentschlossene Tier, verhielt er sich wie ein wahrer Spieler und entschied die Sache, indem er eine Münze warf.

Danach schwoll sein Bauch ebenso an wie seine Börse, und seine Nerven wurden ruhiger. Er speiste wie ein Kardinal, wie die Italiener sagen.



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