Der Weg zur Quelle by Ben Ehrenreich

Der Weg zur Quelle by Ben Ehrenreich

Autor:Ben Ehrenreich
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2017-02-19T16:00:00+00:00


Zwischenspiel

Kuriositätenkabinett der Besatzung

Ausstellungsstück vier:

Die Erniedrigungsmaschine

Kalandia

Zu Fuß passierte ich den Kontrollpunkt Kalandia zum ersten Mal im Frühling 2011. Ich übernachtete bei einem Freund aus Dschajus. Die Mauer hatte die dortige Wirtschaft lahmgelegt. Und nicht nur das. Es gab keine Arbeit, und der Horizont war wortwörtlich verbaut. Er und seine Brüder zogen nach Ramallah, wo sie sich eine Wohnung nicht weit vom al-Amari-Flüchtlingslager teilten. Ich schlief in ihrem Esszimmer auf einem schmalen Bett, das sonst an der Wand hochgestellt war.

Eines Morgens, ein paar Minuten bevor mein Wecker klingeln sollte, wurde ich von einer quietschenden Tür geweckt. Zwei nackte Beine huschten an mir vorbei zum Badezimmer. Ich hörte Wasser laufen und die Toilettenspülung. Als sich die Badezimmertür öffnete, kam eine hellhaarige Frau in ihren Zwanzigern heraus und verschwand in einem der Zimmer der Brüder. Ich stand auf, zog mir eine Hose an und machte Feuer im Herd, um Kaffeewasser aufzukochen. Die Frau kam aus dem Schlafzimmer. Ich murmelte Guten Morgen. Sie nickte unglücklich und machte eine kleine Show daraus, ihren Schlüssel für die Wohnung aus der Tasche zu angeln und auf dem Sofatisch zu platzieren.

»Der Schlüssel«, sagte sie. Dann öffnete sie die Wohnungstür und verschwand.

Ich hatte sie noch nie gesehen, und wenn ich ihr später noch einmal begegnet sein sollte – was sehr wahrscheinlich ist, denn Ramallah ist ein überdimensioniertes Dorf –, erkannte ich sie nicht wieder, deshalb erfuhr ich nie, was passiert war. Aber ihr Blick und die verkrampften Schultern machten deutlich, dass ich unerwünschter Zeuge einer Trennung und eines sehr schlechten Starts in den Tag geworden war. Ich kippte eine Tasse Kaffee hinunter, schnappte mir meine Tasche, überprüfte meine Hosentaschen nach Portemonnaie und Pass und schloss die Tür hinter mir.

Ich hatte einen Termin in Bethlehem, was bedeutete, dass ich zwei Optionen hatte. Ich konnte mir ein Taxi ins Stadtzentrum von Ramallah heranwinken und vom Busbahnhof ein weiteres Sammeltaxi direkt nach Bethlehem nehmen. Oder nicht ganz direkt – Jerusalem lag zwischen den beiden Städten, was bedeutete, den langen, weiten Umweg durch den Container-Kontrollpunkt und das Wadi Nar fahren zu müssen. Was wiederum hieß, dass es vielleicht schneller gehen würde, in ein Taxi nach Kalandia zu springen, den Kontrollpunkt zu Fuß zu durchqueren, auf der Jerusalemer Seite einen Bus zum zentralen Busbahnhof an der Nablus-Straße in Ostjerusalem zu nehmen, wo ich in einen anderen Bus nach Bethlehem steigen könnte. Derlei Annehmlichkeiten standen natürlich nicht allen zur Verfügung.

So kam es, dass ich mich schließlich an den Autos vorbeiwand, die im Schatten der Mauer mit laufendem Motor warteten, sich Stück für Stück voranschoben und dann wieder warteten. Vielleicht lag es am Hof des Steinmetzes in ein paar Hundert Metern Entfernung oder an den Auspuffgasen all der wartenden Autos, Lkws und Busse oder an dem schwarzen Pulver, das brennende Reifen hinterlassen hatten – ich glaube jedenfalls nicht, dass es einen staubigeren Ort in Palästina gibt als Kalandia. Bis zum Jahr 2000 gab es hier überhaupt keinen Kontrollpunkt, nur eine Straße wie alle anderen, die von einer Stadt in eine andere führte. In jenem Jahr wurde das Monster geboren.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.