Der Vogel, der spazieren ging by Kluger Martin
Autor:Kluger, Martin [Kluger, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832186661
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2015-05-16T16:00:00+00:00
Ich erwachte, und die Welt war leer wie am ersten Tag. Der Himmel nichtssagend, bleifarben abwartend. Die Zeiger der alten Standuhr zeigten kurz nach zwei. Vorsichtig erkundete ich die Wohnung. Meine Quälgeister waren ausgeflogen, der Spuk schien vorbei zu sein. Im Schlafzimmer hatte Bruno Fetterly es fertiggebracht, die raumfüllende Matratze zum Auslüften gegen die Wand zu wuchten. Das Treppenhaus gangsterfrei, aber widerhallend von irgendeinem Fest, das die Karatejünger oben feierten. Zettelbotschaften in der Küche. Bin einkaufen. Kuß, Zab. Gehe nach der Schule noch spazieren. Kuß, Ashy. Fahre morgen nachmittag. Sehen wir uns heute Abend? Gruß, Bruno. Ich setzte mich und trank Schluck für Schluck, als wäre ich zur Kur in meiner eigenen Wohnung, ein Glas Leitungswasser. Seltsam das Auswahlverfahren der Eifersucht. Von all den Unglaublichkeiten, die ich am Vortag erfahren hatte, Vaters überraschende Reise, seine Bevorzugung Luciens, die Anwesenheit Ringolds und vermutlich auch Letis in Paris, quälte mich an diesem Frühnachmittag nur die eine: daß Meyer Ashley im Internat besucht und daß meine Tochter mir nichts davon erzählt hatte. Ich ermahnte mich zu Verständnis und Toleranz. Meyers Doppelspiele machten ihr eben Spaß, deshalb hatte sie geschwiegen. Geschenkt. Doch mit jedem Schluck Wasser wurde mir klarer, daß ich ihr Meyer neidete. Meyer gehörte mir, er war mein Erlöser, mein Magier, mein Gangster. Ich leerte die überquellenden Aschenbecher und wanderte den menschenleeren Flur hinunter, zurück in mein Büro.
Hier wartete Perrone, schlimmer: Perrone in love, und ich wandte mich schaudernd ab. Ich telefonierte ein bißchen herum und brachte in Erfahrung, daß Ringold Schneider gottlob nicht im Ritz residierte, sondern privates Quartier in der Avenue Montaigne bezogen hatte. Ich telefonierte eine zweite Runde und verschaffte mir die geheime Telefonnummer. Besetzt. Ich wartete eine Viertelstunde. Immer noch besetzt.
Ashleys Zimmer war wieder peinlichst aufgeräumt, sehr untypisch für sie, so ging das schon seit Wochen. Ich suchte und fand ihr Tagebuch. Doch was mußte ich sehen? Meine ausgekochte Tochter hatte das Telefonschloß ›umfunktioniert‹, die Bügel zum Schutz ihrer Intimsphäre durch Deckel und Seiten gezwungen. Zweifelsohne Meyers Idee. Keine Spur vom winzigen Schlüssel, vermutlich trug sie ihn an ihrem leider viel zu früh erblühenden Busen. Auf dem soldatisch hergerichteten Lager (sie hatte ihr altes Sonne-Mond-und-Sterne-Federbett durch eine graue, mir bislang verborgen gebliebene Wolldecke ersetzt) lagen zwei zerlesene Reclamhefte des reisenden Germanisten Fetterly. Goethe, immer wieder Goethe. ›Stella‹, ein Trauerspiel, ›Pandora‹, das Fragment. Ich blätterte in letzterem und las mich fest. Kaum eine humanoide Gemütsverfassung, die bei Goethe nicht zu finden gewesen wäre. Denn Epimetheus nannten mich die Zeugenden, las ich, Vergangenem nachzusinnen, Raschgeschehenes zurückzuführen, mühsamen Gedankenspiels zum trüben Reich Gestalten-mischender Möglichkeit. Oh ja. Ja, ja. Das Katzenvieh, das mir ausnahmsweise einmal nicht auflauerte, sondern zusammengerollt auf Ashys Kopfkissen lag, duftete nach L’air du temps. Elizabeth hatte es also gestreichelt und geherzt, bevor sie ohne mich einkaufen gegangen war. Wo blieb sie so lange? Ich rollte die graue Decke zusammen und suchte im Halbdunkel der Kapelle nach dem zivileren Federbett. Ich kramte und wühlte noch, als ich plötzlich berührt wurde.
Wie bereits erwähnt, war uns der finstere, gotisch zugespitzte Raum vor dem Schlafzimmer nie ganz geheuer gewesen.
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