Der Tod der Wahrheit by Michiko Kakutani

Der Tod der Wahrheit by Michiko Kakutani

Autor:Michiko Kakutani
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Arendt, Essay, Journalismus, Gesellschaft, "alternative Fakten", Gegenwart, Kritik, Literatur, Orwell, Philosophie, Politik, Trump, USA
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2019-04-20T00:00:00+00:00


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Aufmerksamkeitsdefizit

Wenn man wirklich wissen will, wie etwas funktioniert, muss man es analysieren, während es auseinanderfällt.

– William Gibson1

Wenn es darum geht, Fake News zu verbreiten und den Glauben an die Objektivität zu untergraben, hat die Technologie sich als höchst explosiver Brandbeschleuniger erwiesen. Wir werden uns zunehmend bewusst, dass das, was wir uns als Katalysator für umwälzende Neuerungen vorgestellt hatten, auch eine dunkle Seite hat.

Tim Berners-Lee, der 1989 einen ersten Entwurf für das spätere World Wide Web schrieb, stellte sich ein weltumspannendes Informationssystem vor, das die Menschen über alle Grenzen von Sprache und Ort hinweg verbindet, Informationen weitergibt und so zu einer nie da gewesenen Kreativität und neuen Problemlösungen führen würde.2 Es war gewissermaßen eine gutartige Version von Borges’ unendlicher Bibliothek, in der alles existiert, in diesem Fall aber auch abgerufen und einem praktischen oder fantasievollen Nutzen zugeführt werden kann.

»Der Aufstieg des Web war eine der seltenen Gelegenheiten, die uns neues, positives Wissen über menschliche Möglichkeiten vermittelt haben«, schrieb Jaron Lanier in seinem Buch You Are Not a Gadget (dt. Gadget). »Wer hätte (zumindest anfangs) gedacht, dass Millionen von Menschen so viel Mühe auf ein Projekt verwenden würden, und das ohne Werbung, kommerzielle Motive, Strafandrohungen, charismatische Gestalten, Identitätspolitik, Ausnutzung von Todesängsten und sonstige klassische Motivationen der Menschheit. In großer Zahl taten Menschen etwas gemeinsam, nur weil es eine gute und schöne Idee war.«

Kernstück des kollektiven Projekts war in jener Frühzeit, so berichtet Lanier, »ein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen. Wenn wir dem einzelnen größere Chancen eröffneten, konnte das nach unserer Überzeugung mehr gute als schlechte Folgen haben. Es ist wahrhaft pervers, wozu das Internet inzwischen verkommen ist.«3

Das gleiche Web, das die Information demokratisiert, (manche) Regierungen zu mehr Transparenz gezwungen und es allen, von politischen Dissidenten bis zu Wissenschaftlern und Ärzten, ermöglicht hat, miteinander in Verbindung zu treten – dieses gleiche Web, so erfahren die Menschen heute, kann auch von schlechten Akteuren dazu genutzt werden, Fehl- und Desinformationen, Grausamkeit und Vorurteile zu verbreiten. Die Möglichkeit, im Netz anonym zu bleiben, leistete einem gefährlichen Mangel an Verantwortlichkeit Vorschub und begünstigte Mobbing und Trolle. Riesige Konzerne aus dem Silicon Valley sammelten Nutzerdaten – in einem Umfang, mit dem sie der NSA Konkurrenz machten. Und durch die explosionsartige Zunahme der Internetnutzung verstärken sich auch viele Entwicklungen, die in der zeitgenössischen Kultur bereits vorhanden waren, von der Selbstversunkenheit der »Ich-« und »Selfie«-Generationen bis zur Isolation der Menschen in ideologischen Silos und der Relativierung der Wahrheit.

Die schiere Menge der Daten im Netz erlaubt es den Menschen, sich nach Belieben Tatsachen, Pseudotatsachen oder Nicht-Tatsachen herauszusuchen, die ihre eigene Sichtweise stützen; Fachleute wie Amateure werden gleichermaßen ermutigt, Material zur Unterstützung ihrer eigenen Theorien zu finden, statt empirische Belege zu überprüfen und damit zu rationalen Schlussfolgerungen zu gelangen. Oder, wie Nicholas Carr, der frühere stellvertretende Chefredakteur des Harvard Business Review, in seinem Buch The Shallows (dt. Surfen im Seichten) schrieb: »Wenn wir das Netz durchforsten, sehen wir den Wald nicht. Wir sehen noch nicht einmal die Bäume. Wir sehen Zweige und Blätter.«4

Im Netz, wo Klicks unser Ein und Alles



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