Der Sohn des Spielmanns by Dreißig Georg
Autor:Dreißig, Georg [Dreißig, Georg]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Der Zwilling mit dem goldenen Stern
Es war einmal eine Königstochter, die lebte in einem wunderschönen Schloss und kannte nur Freude und Fröhlichkeit. An ihrem vierzehnten Geburtstag aber überraschte sie ihre Mutter, als diese in einem Erker stand und durch das Fenster hinausblickte. Als die Königstochter ihr leise die Hand auf die Schulter legte und die Königin sich zu ihr umwandte, waren ihre Wangen feucht von Tränen.
Erstaunt streichelte das Kind über die feuchten Wangen, blickte die Mutter verwundert an und fragte: »Warum weinst du, Mutter?«
»Einmal musst du es ja doch erfahren«, seufzte die Königin, »so mag es ruhig auch heute sein.«
Sie schwieg eine Weile sinnend, dann fuhr sie fort: »Immer, wenn dein Geburtstag herankommt, mein Kind, überfällt mich die Trauer. Denn als du geboren wurdest, warst du nicht allein. Du hattest einen Zwillingsbruder. Aber weil er auf der Stirn einen goldenen Stern trug, sagten die Räte des Königs, dass er nicht hier im Schloss aufwachsen dürfe. In einem hölzernen Kästchen wurde der Junge aufs Meer ausgesetzt. Als sie das Kästchen aufs Wasser setzten, brauste das Meer auf. Eine riesige Welle kam herangespült, und als sie wieder zurückrollte, war von dem Kästchen nichts mehr zu sehen. Niemand weiß, was aus dem Knaben geworden ist, ob er auf dem Grund des Meeres ruht oder ob er auf wunderbare Weise gerettet wurde und noch lebt.«
Die Königstochter hatte still den Worten ihrer Mutter gelauscht. Merkwürdig: Sie hatte nie zuvor von dem Bruder gehört, und jetzt war es ihr doch gerade so, als sei ihr die Geschichte längst vertraut und sie habe nur für eine Weile nicht daran gedacht.
Als die Mutter schwieg, fragte die Prinzessin: »Aber wenn er noch lebte, mein Bruder, dann würde man ihn doch leicht an dem Stern auf seiner Stirn erkennen. Ist es nicht so, Mutter?«
Die Königin nickte. »An dem Stern auf seiner Stirn müsste man ihn erkennen.«
Da ging die Königstochter in ihre Kammer, und als sie wenig später wieder vor die Königin hintrat, hatte sie ihr schönes weißes Kleid abgelegt und trug ein schlichtes braunes Gewand und einen dunklen Mantel darüber.
»Mutter«, sagte die Königstochter ernst, »ich werde noch in dieser Stunde aufbrechen, um meinen Bruder zu suchen, den ich bei meiner Geburt verloren habe. Versuch nicht, mich umzustimmen. Es würde nichts nützen. Du wirst mich entweder mit ihm zusammen oder niemals wiedersehen.«
Der Königin, als sie ihre Tochter so sprechen hörte, flössen die Tränen in hellen Bächen die Wangen herab. Doch war es nicht Kummer allein, der sie weinen ließ, sondern da hineingemischt war zugleich die heimliche Hoffnung, dass sie endlich auch den Zwilling ihres Kindes wiedersehen würde. Schweigend küsste sie die Königstochter zum Abschied auf die Stirn und ließ sie ziehen. Sie selbst aber schloss sich in ihr Gemach ein, um für ihre Kinder zu beten, und tat den Schwur, nicht eher wieder hervorzukommen, als bis die Königstochter ihren Bruder gefunden hätte.
Die Königstochter wanderte ohne Unterlass, bis sie ans Meer kam, dorthin, wo vor vierzehn Jahren ihr Bruder im Kästchen ausgesetzt worden war. Am Strand fand sie Fischer, die eben vom Fang heimgekehrt waren und ihre Boote aufs Land zogen.
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