Der Silberkessel by Stefan Jäger

Der Silberkessel by Stefan Jäger

Autor:Stefan Jäger [Jäger, Stefan]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-08-20T16:00:00+00:00


HELVETIEN IM MOND OCTOBER

Schweizer Voralpen

Timaios schrie die Ochsen an und zog mit aller Kraft am Geschirr. Die Arme schmerzten ihn. Laut und verzweifelt brüllten die Tiere zurück. Da glitt der Massaliote im Schlamm aus und stürzte der Länge nach in den kalten Morast. Am liebsten wäre er liegen geblieben, doch mühsam rappelte er sich wieder hoch, fluchte und versuchte erneut, den Wagen, der nun bis über die Hinterachse eingesunken war, mithilfe der Tiere aus dem Sumpf zu ziehen. Es war hoffnungslos, und er konnte ohnehin kaum noch die eigenen Arme heben. Schließlich bedeutete Radiger ihm und den anderen, die sich an den Vorderrädern abmühten, sie sollten loslassen.

Der rotblonde Kimber zog sein Schwert aus der Scheide und durchtrennte das Ledergeschirr, mit dem die brüllenden Ochsen an den Wagen gebunden waren. Mühsam und unter Schlägen retteten sich die Tiere auf den halbwegs festen, sich neigenden Boden und fassten schließlich Tritt auf dem hölzernen Damm. Dort blieben sie erschöpft stehen, ließen die Zunge aus dem Hals hängen und behinderten den nachfolgenden Tross. Weitere Schläge und laute Rufe trieben das Gespann wieder vorwärts. Unten versank der Wagen unter leisem Schmatzen im Schlamm, bis nur noch die Aufbauten herausragten. Einige Säcke und Gerätschaften waren gerettet worden und wurden den Hang hinaufgereicht.

»Hatte keinen Zweck mehr«, sagte Radiger. »Zumindest sind die Ochsen nicht verreckt.« Er fuhr mit dem Schwert über seine verdreckte Lederhose und steckte es zurück in die Scheide.

Timaios, einen fremden Leinensack mit Kleidungsstücken auf den Armen, blickte zu dem Knüppeldamm hinauf. Tagelang hatten sich Tausende von Männern abgemüht, um einen gangbaren Weg durch die sumpfige Niederung zu schaffen. Die Kimbern hatten Bäume gefällt, Bohlen gezimmert, Holz herangeschleppt, Unebenheiten weggeschaufelt, Untiefen überbrückt und über den ganzen Weg Erde gehäuft und festgetreten. Timaios hatte mit ihnen geschwitzt, hatte geblutet und gelitten. Erst geplagt von Stechmücken, Moskitos und Blutegeln, später von Regen, Schlamm und stürzenden Bäumen. Danach, als die Zeit schon verschwamm und die Erinnerungen ihm eine süße Vergangenheit vorgaukelten, wurden die müden Muskeln, aufgeschürften Gliedmaßen und verrenkten Gelenke zur größten Last.

Schließlich war der Menschenwurm durch den Sumpf gekrochen, hatte sich bald nach rechts, bald nach links erbrochen, hatte Wagen und Menschen, Rinder und Schafe wie Abfall, wie Exkremente ausgespien und im Morast zurückgelassen. Der endlose Zug hatte sich gewunden, gequält, gehäutet, geblutet, immer wieder seine Wunden versorgt, Glieder abgeschieden und erneut angefügt. Immer weiter ging es, wie hoch der Blutzoll auch sein mochte. Und wohin sollten die Wanderer auch zurückkehren? Als der Regen kam, war unter der unaufhörlichen Last ein ums andere Mal ein Stück des Dammes gebrochen, unterspült und aufgeweicht von diesen endlosen Wasserfäden, die Freyr – und nur er kannte den Grund dafür – auf die Erde schickte. Die Wege wurden so schlecht, wie es die Moral der Menschen aufgrund des schlechten Wetters, der schlechten Wege, der schlechten Nahrung längst war. Die Spuren der Kimbern, Haruden und ihrer Weggenossen durch diese Unterwelt würden auf viele Jahre von Kadavern, Karren und Moorleichen gekennzeichnet sein.

Kleinere Teile des großen Zuges hatten sich in der eintönigen Sumpflandschaft immer wieder



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