Der Professor by John Katzenbach

Der Professor by John Katzenbach

Autor:John Katzenbach
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426404102
Herausgeber: Knaur e-books


26

J

ennifer sang Mister Braunbär leise etwas vor, als die Tür aufging. Es war kein spezielles Lied, sondern eine Mischung aus sämtlichen Kinderliedern, an die sie sich erinnern konnte, so dass »Row, Row, Row Your Boat« und »Itsy Bitsy Spider« in »The Bear Went Over the Mountain« und »I’m a Little Teapot« übergingen. Außerdem mischte sie noch das eine oder andere Weihnachtslied darunter. Jeden Liedtext, jeden Vers, jede Melodie, die ihr einfielen, summte sie vor sich hin. Um Rap und Rock ’n’ Roll machte sie einen großen Bogen, weil sie sich nicht denken konnte, wie sie daraus Trost schöpfen sollte. Als das Geräusch der Tür sie unterbrach, hielt sie die Luft an, sang jedoch im nächsten Moment umso lauter weiter. »God bless ye, merry Gentlemen, let nothing ye dismay, remember Christ our Saviour was born this Christmas day …Gott segne euch, ihr wackren Herren, seid guten Muts und wisst, an diesem Tag geboren ward unser Herre Christ …«

»Nummer 4, bitte pass auf.«

»Oh, the bear went over the mountain, the bear went over the mountain, the bear went over …«

»Nummer 4, hör auf zu singen, oder ich tu dir weh.« Jennifer hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Drohung ernst gemeint war. Sie hörte auf. »Gut«, sagte die Frau.

Jennifer hätte am liebsten gelächelt. Kleine Rebellionen, sagte sie sich. Tu, was sie verlangen, aber …

»Pass auf«, sagte die Frau.

Ich weiß, wo du bist, dachte Jennifer. Sie wusste nicht, wieso ihr das so wichtig war, aber das war es. Von den wenigen Sekunden, die sie unter ihrer Augenbinde hervorgespäht hatte, fühlte sie sich viel stärker. Endlich konnte sie sich im Raum orientieren. Sie wusste von der Videokamera, die auf sie gerichtet war. Sie hatte die kahlen weißen Wände, den grauen Fußboden gesehen, blitzschnell Maß genommen und vor allem gesehen, dass ihre Kleider in der Nähe des Eingangs gestapelt waren. Sie lagen alle säuberlich gefaltet neben ihrem Rucksack, als warteten sie dort frisch gewaschen und gebügelt auf sie. Es war nicht dasselbe, wie angezogen zu sein, doch allein schon die Möglichkeit, wieder in ihre Jeans und ihr T-Shirt zu schlüpfen, hatte sie mit Hoffnung erfüllt.

Die Kamera, die unbeirrbar auf sie gerichtet war, hatte ihr zu denken gegeben. Jennifer war klar, dass es demnach keine Privatsphäre gab. Als ihr diese Verletzung bewusst wurde, war sie rot geworden, doch im nächsten Moment hatte sie begriffen, dass, wer auch immer sie beobachtete, nicht sie zu sehen bekam, sondern eine Gefangene. Sie war nach wie vor anonym. Vielleicht war ihr Körper bloßgestellt worden, aber nicht sie. Es bestand ein Unterschied zwischen dem Menschen, der sie war, und dem, was sie tat. Irgendeine Doppelgängerin von Jennifer, die sie Nummer 4 nannten, machte dies oder das, während die echte Jennifer ihren Teddy festhielt und Lieder sang und herauszufinden versuchte, in was sie hineingeraten war. Sie wusste, dass es ein hartes Stück Arbeit werden würde, die wahre Jennifer zu beschützen und den Mann und die Frau, ihre Kerkermeister, in dem Glauben zu wiegen, die Pseudo-Jennifer sei echt.

Und noch etwas machte die Kamera ihr klar.



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